Nach Krisenjahrzehnten als neongrelle Peep-Show-Hölle ist das weltberühmte Wahrzeichen heute ein verkehrsberuhigter Prototyp für modernen Städtebau. Wie ist das gelungen?
Times SquareWo das Herz von Manhattan schlägt – seit 120 Jahren
Taghell leuchten die Billboards, es ist niemals Nacht an diesem bizarren Ort. Es ist, als staue sich ein unsichtbares Flirren in den Häuserschluchten ringsum, als sei die Luft prall geladen mit magischer Energie. Wer sich für die Spezies Mensch in all ihren Spielarten interessiert, ist hier richtig.
Wer die Einsamkeit sucht und dem Kommerz abhold ist, halte sich fern vom Times Square, dem Solarplexus von Manhattan, dem überfüllten, überwältigenden und doch unwiderstehlichen Nervenzentrum von New York City.
Es kann kein Zufall sein, dass dieser Platz die Form einer Sanduhr hat. Hier verrinnt die Zeit schneller als anderswo, hier häutet sich alle paar Jahre die Moderne. Dabei treffen doch bloß zwei Straßendreiecke aufeinander – der diagonal zum Straßenraster verlaufende Broadway, die 42nd und 47th Street sowie die 7th Avenue. Es ist ein X aus Asphalt und Beton. Einen wirklichen „Square“, einen rechteckigen Platz, gibt es hier gar nicht. Und doch drängen sich bis zu 400.000 Besucher täglich auf der „Kreuzung der Welt“, sitzen auf der Tribünentreppe, versuchen, die gigantische Lichtshow mit ihren Smartphones einzufangen.
Eine urbane Legende
120 Jahre ist es her, dass Adolph S. Ochs, Eigentümer und Chefredakteur der „New York Times“, seine Redaktion in einen prächtigen Neubau am damaligen Longacre Square verlegte, dem Kutschenviertel der Stadt, benannt nach dem Londoner Pendant. Im April 1904 unterzeichnete der damalige Bürgermeister George McClellan eine Resolution, die die nördlich des „Times“-Gebäudes gelegene Kreuzung offiziell in „Times Square“ umbenannte. Es war die Geburtsstunde einer urbanen Legende – heute die zweitmeistbesuchte Touristenattraktion der Welt nach dem Strip in Las Vegas. Nur drei Wochen später flammte die erste elektrische Lichtwerbetafel am Times Square auf.
Es ist heute ja kaum vorstellbar, welche Wirkung nach dem Siegeszug der Elektrizität Anfang des 20. Jahrhunderts die neuen Lichter der Großstadt auf Millionen Menschen hatten. Feuilletonisten feierten damals die „neue Symphonie der nächtlichen Lichtstadt“, der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer sah das urbane Glitzern als „flammenden Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins“, als „Protest der Lebensgier“. Und der Schriftsteller und Journalist Friedrich Oppenheimer wertete Reklametafeln als „Söldner im Kampf mit der Dunkelheit“, gar als „demokratische Blitze“.
Erleuchtung der Nacht
Über Jahrhunderte waren Nächte bedrohlich und dunkel gewesen. Mit Fackeln, Kerzen und Tranfunzeln stemmten sich die Menschen gegen die imaginierten und echten Monster der Finsternis, bis die ersten Straßen mit Gaslaternen beleuchtet wurden. Doch es gab auch putzige Warnungen: „Das Gaslicht ist zu rein für das menschliche Auge“, befand der Publizist Ludwig Börne Anfang des 19. Jahrhunderts – „unsere Enkel werden blind werden“.
Die Mehrheit freilich begrüßte das künstliche Licht als segensreiche Erfindung der Moderne. „Die Intensität einer Weltstadt kann gemessen werden an der Intensität ihres nächtlichen Lichtbildes“, schrieb der Architekt und Stadtplaner Hugo Häring. Und an die Spitze der Bewegung, die die Erleuchtung der Nacht als Triumph der Zivilisation verstand, setzte sich wie eine kapitalistische Kathedrale aus Kunstlicht der Times Square in New York.
Die „Times“ selbst platzte schon 1913 aus allen Nähten und zog weiter nach 229 West 43rd Street, wo sie bis 2007 residierte. Nicht, ohne 1907 eine Tradition zu begründen, die jährlich am 31. Dezember mehr als eine Million Menschen anzieht und für Millionen weitere Amerikaner im Fernsehen zur Silvesterroutine gehört: den „Ball Drop“ zum Jahreswechsel um Mitternacht. Bei dem passiert freilich nicht viel mehr, als dass eine leuchtende, 550 Kilogramm schwere Kristallkugel mit 1,80 Meter Durchmesser auf dem Dach des Gebäudes „One Times Square“ 43 Meter an einem Fahnenmast heruntergleitet.
Schnell wurden Times Square, 42nd Street und Broadway, wo sich ein halbes Dutzend U-Bahn-Linien kreuzen, zum flirrenden Kulturzentrum der explodierenden Metropole – mit Theatern, Bars und Restaurants. In der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre jedoch begann der rasante Abstieg. Unzählige Arbeitslose suchten Ablenkung vom Elend in billigen Spelunken und schäbigen Bordellen. Der Times Square verrottete zum sündhaften Babylon der Metropole.
Massenhaft Soldaten im Fronturlaub suchten hier im Zweiten Weltkrieg den schnellen Kick. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts verkam die Gegend noch weiter – Drogen, Kriminalität, Sexshops, Go-go-Bars, Glücksspiel, Pornokinos, Obdachlosigkeit. In den dunklen Fußgängertunneln der U-Bahn harrten Junkies und Huren aus. Die Gegend um den Times Square wurde schleichend zum kaputten, neongrellen Höllenloch einer mit sich hadernden, durch Watergate und Vietnam-Krieg tief verunsicherten Nation.
Es waren die schwarzen Jahre, verewigt etwa in John Schlesingers Kinofilm „Midnight Cowboy“ (1969), in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976) mit Robert De Niro und zuletzt in der brillanten HBO-Serie „The Deuce“ (2017) mit James Franco. 1982 kürte der „Rolling Stone“ den Times Square zur „anrüchigsten Adresse der gesamten USA“. Es war der Tiefpunkt dieser Kreuzung.
Bis dann – so will es die Legende – ein Mann mit eisernem Besen den Saustall ausmistete, dessen politische Karriere gerade implodiert ist: Rudy Giuliani. Als New Yorker Bürgermeister verschaffte sich der spätere juristische Kettenhund von Donald Trump ab 1989 als urbaner Sanierer einen Ruf wie Donnerhall, erntete aber auch massive Kritik für Polizeigewalt, radikalen Kapitalismus und eine aggressive Vertreibungspolitik vor allem gegenüber mittellosen New Yorkern.
In den acht Jahren seiner Amtszeit verringerte sich die Kriminalitätsrate in der Stadt um knapp 60?Prozent. Das lag aber nicht allein an Giulianis Nulltoleranzpolitik, sondern auch am Nachlassen der Crack-Epidemie in den USA. Zum legendären Cop wurde in dieser Zeit der „U-Bahn-Polizist“ Jack Maple, ein modebewusster, nicht ganz uneitler Officer, der ein System entwickelte, mit dem sich Überfälle quasi am Reißbrett vorhersagen ließen. Seine revolutionäre, datengestützte Methode reduzierte die Zahl der Raubüberfälle in wenigen Jahren um 27?Prozent.
Ende der Gammeljahre
Schon Anfang der Achtziger hatten die Bürgermeister Ed Koch und David Dinkins einen kommerziellen Bauboom ausgelöst. Luxushotels wie das Macklowe Hotel, Marriott Marquis oder das Crowne Plaza entstanden. Die City kaufte neun historische Theatergebäude und sanierte sie. 1991 machte die letzte Peepshow dicht. Die Gammeljahre endeten. Das Kapital übernahm.
Für das südliche Straßendreieck (den eigentlichen Times Square) und seinen nördlichen Bruder (der offiziell den Namen Duffy Square trägt) sowie das Broadway-Viertel begann eine kommerzielle Blütezeit, die bis heute anhält – mit aktuell nicht weniger als 41 (Musical-)Theatern und ungezählten Restaurants. Bis auf ein paar übergriffige Maskottchenfiguren in den Nullerjahren und einen kurzen Boom barbusiger Frauen, die als Fotomotiv um Touristen buhlten, gab es seither keine moralischen Verwerfungen mehr zu beklagen.
Die Stadt verpflichtete Bauherren gar zu einem Mindestmaß an Leuchtreklame an ihren Neubauten. Überall sonst gilt eine Maximalgrenze – am Times Square sind LCD-Screens hingegen Pflicht. Seit 2011 herrscht auch draußen Rauchverbot. Wer einen Blick in die Zukunft globaler Millionenstädte werfen will, muss den Times Square besuchen. 2011 heuerte die Stadt das amerikanisch-norwegische Architekturbüro Snøhetta Arkitektur og Landskap an, um die Plaza mit Granitbänken und großflächigem Flanierraum aufzumöbeln. Man habe den Times Square „als zeitgenössische Bühne für das Spektakel des öffentlichen Lebens im Herzen New Yorks neu erfunden“, lobte sich das Büro selbst. Was Architekten halt so schreiben.
Die Gangster tragen heute Anzüge und sitzen in klimatisierten Büros. Die Straßen sind sauber, weitgehend blutfleckenfrei und seit 2009 für amerikanische Verhältnisse „verkehrsberuhigt“, mit Ausnahme der 7th Avenue und der Querstraßen. Kritiker spotten über die „Disneyfizierung“ des neuen Times Square – nicht ganz zu Unrecht, denn die Walt Disney Company war an der Neuausrichtung von Midtown New York nicht unerheblich beteiligt – und feierte dann am Broadway Welterfolge mit Musicals wie „Der König der Löwen“. Aber: Die Fußgängerunfälle gingen um 35 Prozent zurück. Das subjektive Sicherheitsempfinden ist hoch.
Eine einzige Geldmaschine
Der Zustand des Times Square war stets ein Symbol für den Zustand des ganzen Landes: vom zukunftsbetrunkenen Optimismus des frühen 20. Jahrhunderts über die Große Depression der Dreißigerjahre bis hin zum Zweiten Weltkrieg, als Bürgermeister Fiorello LaGuardia 1942 eine vollständige Verdunkelung für ganz Manhattan anordnete, um den vor der Küste lauernden U-Booten der Nazis kein illuminiertes Ziel zu bieten. Und so ging es weiter. Auf dem Times Square spiegelten sich die aggressive Ratlosigkeit der Siebziger, die eiskalte Gentrifizierung der Achtziger und Neunziger sowie der Siegeszug des globalisierten Raubtierkapitalismus.
Heute ist er – auch hier ein Symbol seiner Zeit – vor allem eine Geldmaschine. Von jedem Dollar, den Touristen in New York ausgeben, landen 22 Cent genau hier – im Disney Store, in Hershey’s Chocolate World, im Planet Hollywood, im Last-Minute-Musical-Ticketshop TKTS. Der Umsatz mit Entertainment, Musicals, Shopping und Hotelübernachtungen liegt bei mehr als 5 Milliarden Dollar pro Jahr.
Schauplatz zahlloser Filme
Der Times Square ist das Herz des amerikanischen Kapitalismus – jedenfalls, wenn wir annehmen, dass der Kapitalismus überhaupt ein Herz hat. Tief ist er im nationalen Kollektivbewusstsein verankert, auch als Schauplatz zahlloser Hollywoodwerke, von „Spider-Man“ bis „Der Teufel trägt Prada“, von „Birdman“ mit Michael Keaton bis „Captain America: The First Avenger.“ Nicht weniger als 183 Filme und Serienepisoden im Werkverzeichnis IMDB tragen „Times Square“ im Titel – Podcasts nicht mitgerechnet.
Hier stolpern Tina Fey und Steve Carell in „Date Night“ durch die Nacht, hier jagen die „Ghostbusters“ Gespenstern hinterher, hier trampelt „Godzilla“ durch die Straßenschluchten. Und hier läuft Tom Cruise 2001 in „Vanilla Sky“ einsam über den Asphalt – eine ikonische Szene, die den Times Square so zeigt, wie er außerhalb des Kinos niemals zu sehen ist: menschenleer. Mehr als eine Million Dollar kostete es die Filmcrew, die komplette Kreuzung an einem Morgen für drei Stunden abzusperren, um die 60-Sekunden-Sequenz zu drehen.
„Ich bin so oft als abgebrannter und hungernder Künstler über den Times Square gegangen“, sagte der Schauspieler und Sänger Tituss Burgess („Unbreakable Kimmy Schmidt“) – „und jetzt, als Fernsehschauspieler mit neuen Hoffnungen und Träumen, steht er für mich sinnbildlich für die Chancen im Leben und den Moment, in dem sich ein Kreis schließt.“
„Der Times Square ist ein Spiegelbild unseres Landes, unseres Handels und unserer Kultur“, schreibt die Times Square Alliance, eine Interessengemeinschaft ansässiger Händler und Investoren. Er sei „ein Fenster in die Seele der Stadt, ein Ort, der unsere Fantasien und Ängste, unsere Träume, Wünsche und Bestrebungen widerspiegelt“. Man gibt sich demütig. „Wir haben Fehler gemacht, und wir werden weitere machen, aber wir lernen.“ Die „New York Times“ ist da nachsichtiger: Sie bewertet die Neuausrichtung des Platzes als „visionäre Vorlage“ für die Reform der „kulturellen und kreativen Infrastruktur“ auch anderer Städte.
New York versucht am Times Square eine Frage zu beantworten, die in diesen Zeiten Städteplaner auf der ganzen Welt beschäftigt: Wie lässt sich eine Stadt „beruhigen“ und der Verkehr einhegen, ohne dass darunter der Buzz, der Komfort und die Lebendigkeit leiden? Denn all die Fotomontagen von autofreien Flanierzonen und ehemaligen Parkplätzen, auf denen heute Sitzmöbel herumstehen, setzen ja voraus, dass dort tatsächlich Menschen flanieren und sitzen wollen. In Manhattan dürfte das kein Problem sein – aber in Paderborn oder Bielefeld?
Es ist eine städteplanerische Gratwanderung. „Wir wollen sauber, sicher und einladend sein, aber nicht kontrollbesessen und steril“, heißt es in den Richtlinien der Times Square Alliance. „Es ist in Ordnung, kommerziell zu sein – aber nicht, wenn es das bürgerschaftliche Engagement überlagert.“ Und: Man wolle die Besucher willkommen heißen, aber auch sicherstellen, „dass sich die New Yorker wie zu Hause fühlen“.
Das ist der Knackpunkt. Zwar lieben die meisten Touristen von außerhalb den Times Square. Schon deshalb, weil er in so ziemlich allen Belangen das Gegenteil von North Dakota, Nebraska oder Idaho ist. Einheimische hingegen vermeiden es nach Kräften, sich durch die staunende Landbevölkerung auf der 7th Avenue zu schieben, die das Hard Rock Café, die Bubba Gump Shrimp Company oder den M&M’s-Flagship-Store suchen.
Kritik an Nostalgikern
Die Zukunft der Kreuzung gehört dem Geld. US-Rapper Jay-Z will mit seiner Unterhaltungsfirma Roc Nation und weiteren Investoren ein „Caesars Palace“-Casino am Times Square eröffnen. Es wäre erst das zweite Casino der Stadt. Kehrt das organisierte Glücksspiel zurück? Die Idee hat nicht nur Freunde.
Manch Alteingesessener aber vermisst die schäbige Schiebermützenidylle früherer Jahre, etwa die gefürchtete New Yorker Spötterin Fran Lebowitz, die jüngst klagte: „Der Times Square ist inzwischen die schlimmste Gegend der Welt.“ Oder der Autor Jonathan Safran Foer, der fragte: „Gibt es irgendjemanden außer Rudy Giuliani, der den neuen Times Square dem alten vorzieht?“
Die Nostalgiker freilich müssen sich Kritik daran gefallen lassen, dass sie den früheren Krawallort unter dem beschönigenden Weichzeichner der Erinnerung zur Idylle verklären. „Für diejenigen, die dem alten Times Square nachweinen“, ätzte der Komiker Kurt Braunohler, „es gibt jede Menge Orte in der Stadt, die noch genauso schlimm sind, wie der Times Square damals war! Kauft euch ein U-Bahn-Ticket und fahrt mal hin!“
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Es ist Nacht. Setzen wir uns im Geiste auf die roten Stufen der Freitreppe am Nordende des Times Square, am Duffy Square, und blicken die 7th Avenue herunter, umtost von Licht, Bildern und Menschen. „Zu New York gehörst Du sofort dazu“, schrieb Tom Wolfe in „Fegefeuer der Eitelkeiten“, „ganz egal, ob Du dich fünf Minuten hier aufhältst oder fünf Jahre“.
Es ist seltsam, aber obwohl alles dagegen spricht, obwohl es laut, voll, wild und zuviel ist, kann man an diesem Ort doch das Gefühl entwickeln, für den Moment genau am richtigen Platz zu sein.
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