Wer, wie unser Autor, die meiste Zeit seines Lebens in prekären Verhältnissen gelebt hat, leidet oft ein Leben lang. Ein Erfahrungsbericht.
Erfahrungsbericht eines BetroffenenWas Armut aus den Menschen macht
Da ist die Wut. Immer, wenn mir eine Situation entgleitet, spüre ich sie. Sie friert meine Atmung ein und manchmal, da lässt sie mich handeln, als wäre mein Kopf auf Autopilot.
Eine Situation, sie ist erst ein paar Jahre her: Ich muss mich beeilen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Ich schaue auf mein Handy. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein älterer Mann gleich meinen Weg kreuzt. Ich bemerke, wie der Mann seine Schulter herausstellt, als wir auf gleicher Höhe sind, sodass er mich anrempelt. Sofort bin ich in einem Film. Er ist vier oder fünf Schritte weitergegangen, doch ich schreie ihn an, mit erhobenen Fäusten gehe ich ihm hinterher. Ob er etwas auf die Fresse will, frage ich ihn.
Er entschuldigt sich, sichtbar erschrocken, dreht sich um und geht weiter. Damit nimmt er mir in dem Moment jeglichen Wind aus den Segeln. Ich gebe mich geschlagen, drehe mich um, und schon zieht die Schamesröte in meinen Kopf. Das, was da gerade passiert ist, das bin doch nicht ich – oder doch?
Armutsbetroffene begleitet stets ein Gefühl von Ohnmacht
Man kann sich fragen, was diese Situation mit der Armut zu tun hat, in der ich aufgewachsen bin. Ich will versuchen, es zu erklären. Menschen, die in Armut aufwachsen, haben, sobald sie das Haus verlassen Auswärtsspiel. Auswärtsspiel bei Bayern München. Auswärtsspiel in der Schule, Auswärtsspiel beim Sozialamt, das jetzt Jobcenter heißt, aber Menschen noch genauso behandelt wie vorher. Dieses Gefühl, in eine Welt hinauszugehen, die einem nicht nur überlegen, sondern auch nicht wohlgesonnen ist, führt bei vielen Armutsbetroffenen zu dem Gefühl von Ohnmacht.
Manche Menschen kompensieren diese Ohnmacht mit Wut. Es lässt sich so viel besser wütend sein als ohnmächtig. Ohnmacht oder auch Angst, von beiden Gefühlen hatte ich in meinen 35 Jahren so viel, es würde für zehn Leben reichen. Wie handlungsfähig man sich fühlt, wenn die Wut durch die Adern läuft, herrlich. Dass dabei in meinem Kopf über die Jahre etwas kaputt ging, habe ich erst spät, mit 30, gemerkt.
Menschen aus der untersten sozialen Statusgruppe, so das Robert Koch-Institut, erkranken innerhalb eines Jahres mit 32,2 (Männer) und 43,3 Prozent (Frauen) signifikant häufiger an psychischen Störungen als Menschen aus der höchsten Statusgruppe (Männer: 17,7 und Frauen: 27,4 Prozent). Ich bin einer von ihnen.
Starke Gefühle sind schwer zu kontrollieren
Jemand, der – wie ich – die längste Zeit seines Lebens in Armut gelebt hat, verfügt manchmal nur über wenig Kapazitäten, seine starken Gefühle zu kontrollieren. Es beginnt damit, dass armutsbetroffene Kinder häufiger Opfer häuslicher Gewalt werden als Kinder mit höherem sozioökonomischen Hintergrund. In der Schule und auf der Straße setzt sich dieser Trend fort. Kinder, die häusliche Gewalt erleben, üben später häufiger selbst Gewalt aus. So wie ich früher.
Armutsbetroffene leiden häufiger unter körperlichen Erkrankungen als der Rest der Bevölkerung. Sie leben häufig an lauten Straßen, Bahngleisen und in Gegenden, in denen die Umweltbelastung hoch ist. Sie arbeiten häufig in körperlich harten Jobs, die ihre Körper krank machen. Beinahe jeder dritte Mann und jede sechste Frau, die in Armut lebt, stirbt vor dem Ende des 65. Lebensjahres.
Dem verfrühten Tod aufgrund des sozialen Status wird kaum Beachtung geschenkt. Auch bei der Frage nach dem Renteneintritt kommt kaum jemals zur Sprache, dass die obersten 20 Prozent der Bevölkerung, je nach Geschlecht, zwischen acht und zehn Rentenjahre mehr haben als das unterste Fünftel.
Zwei Lebensläufe: ein erfolgreicher, ein nicht sehr erfolgreicher
Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird, lautet: Olivier, bist du wirklich nicht aufgestiegen? Wer sein Buch, so wie ich, „Keine Aufstiegsgeschichte“ nennt, der muss mit Nachfragen rechnen, klar. Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn ich könnte zwei ganz unterschiedliche Lebensläufe von mir schreiben, einen erfolgreichen und einen nicht sehr erfolgreichen.
Mein erfolgreicher Lebenslauf: Aufgewachsen bin ich als zweites Kind einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters in Hamburg-Altona. Ich wurde auf einer Waldorfschule eingeschult. Trotz verpassten Abiturs habe ich eine Schauspielausbildung gemacht, später ein journalistisches Volontariat. Nun bin ich Autor und Kolumnist, ich gebe Lesungen und spreche auf Podiumsdiskussionen über soziale Ungleichheit.
Häusliche Gewalt, Mutter psychisch krank, Vater im Gefängnis
Der weniger erfolgreiche Lebenslauf: Ich bin in Armut aufgewachsen. Schon früh habe ich zu Hause häusliche Gewalt erlebt. Meine Mutter war lange Jahre psychisch krank, mein Vater saß vor meiner Geburt mehrfach im Gefängnis, weil er dealte – nach der Trennung meiner Eltern begann mein Vater erneut mit dem Dealen. Die Angst, dass er von der Polizei erwischt wird, begleitete mich mehr als die Hälfte meines Lebens.
Dieser Lebenslauf erzählt vor allem von den Verwüstungen, die ein solches Aufwachsen mit sich bringt, selbst wenn man der Armut entkommen sollte, was statistisch gesehen eher unwahrscheinlich ist. Der Lebenslauf erzählt von Depressionen und besagter Wut auf alles und jeden. Er erzählt von dem Gefühl, dass jedes bisschen Glück mit doppelt so viel Pech abgestraft wird und die Kraft nicht mal für den Alltag reicht, obwohl man noch jung ist.
Beide Lebensläufe sagen die Wahrheit – und doch ist es so, dass es manche Leute kaum aushalten können, dass ich keine allzu positive Vision meiner Zukunft entwickeln kann. Ich sage dann, dass ich mich darüber freue, mit meiner sozialen Herkunft vom Schreiben zu leben – und sei es mehr schlecht als recht. Dass ich trotzdem davon ausgehe, zeit meines Lebens um das Über-die-Runden-kommen kämpfen zu müssen, können viele kaum aushalten, weil es so wenig mit ihrer Vorstellung von Gesellschaft zu tun hat. Ihr Gedanke: Der sitzt doch auf einer Bühne – also hat er es geschafft.
Aufmerksamkeit auf Zeit
Ich denke, ja ich habe es geschafft, den Beruf auszuüben, der mir Freude und Genugtuung bereitet. Aber zu welchem Preis? Die polemische Antwort muss lauten: Zu einem geringen Preis – freischaffende Autoren schrammen in Deutschland regelmäßig am Existenzminimum, viele liegen drunter. Zudem ist die Aufmerksamkeit, die ich für mein Buch bekomme, eine Aufmerksamkeit auf Zeit. Wenn ich nicht wieder und wieder abliefere, ist es schnell um sie geschehen. Und selbst wenn mein Buch viel besprochen wird oder ich über meine Arbeit sprechen darf, lässt sich das angesammelte kulturelle Kapital nur schwer in etwas übersetzen, das den Namen Aufstieg verdient hat.
Wenn Medien uns etwas über Armut erzählen, erwarten wir oft jene Bilder, von denen wir gelernt haben, dass sie Armut bedeuten: die dreckverkrustete geöffnete Hand, die um Geld bittet, oder die Schlange müder und abgekämpfter Menschen vor der Essensausgabe. Weniger gut ertragen wir es, wenn wir Geschichten von Armut hören, die nicht mit unseren Annahmen übereinstimmen. Wie das Bild des Armen, der die Waldorfschule besucht.
Lebenslauf drei ist der der Stille
Es gibt noch einen dritten Lebenslauf, den viele Armutsbetroffene teilen, nennen wir ihn den Lebenslauf der Stille. Dem Ohnmachtsgefühl, das die Armutserfahrung in vielen Menschen auslöst, begegnet ein Teil der Armutsbetroffenen mit sozialem Rückzug. Es findet eine Trennung zwischen dem Individuum und der Welt statt. Diese Trennung äußert sich in einer Art sozialen Apathie, in der man zwar Erlebnisse der Zeitgeschichte wahrnimmt, sie aber nicht mit sich und seiner Lebenswelt in Verbindung bringt.
Dieser Rückzug ins Innere hat ganz reale Konsequenzen. Die Leben von 14,1 Millionen Armutsbetroffenen in diesem Land sind den Spielregeln der Marktwirtschaft stärker unterworfen als denen der Politik. Das hat mit dem Rückzug der Politik aus der Wirtschaft selbst zu tun. Armutsbetroffene spüren daher weniger die Vorteile der Demokratie als die frei drehenden Märkte am eigenen Leib.
Eine Studie der Bundesregierung kommt zu dem Schluss, „dass die Politik des Bundestages häufiger auf die Ansichten und Anliegen der obersten Einkommensschicht reagiert, die Meinungen der unteren und mittleren Einkommensschichten dagegen kaum beachtet oder sogar missachtet werden.“
Politische Entscheidungen sagen Armutsbetroffenen: Ihr seid nicht gemeint
Das hat Konsequenzen, denn politische Entscheidungen vermitteln Armutsbetroffenen genau das: Ihr seid nicht gemeint. So verwundert es nicht, dass eine Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung feststellt, dass Nichtwähleranteile von 75 Prozent in bestimmten verarmten Stadtvierteln keine Seltenheit darstellen.
Dem Dilemma des stereotypen Blicks auf arme Menschen entkommt man selbst mit differenzierter Berichterstattung nur schwer. Eine Lösung sehe ich darin, die persönlichen Kosten aufzuzeigen, die ein Leben in Armut auslöst: die körperlichen Erkrankungen, die psychischen Störungsbilder, die Wahrscheinlichkeit eines verfrühten Todes, die harte Arbeit und ihre Folgen.
Ich lebe nun schon seit ein paar Jahren über der Armutsschwelle, und doch: Die Gefühle in mir sind dieselben wie früher. Die Wut ist geblieben, das Gefühl, von der Welt nicht angesprochen zu werden, ist noch Teil meines Lebens. Und mit diesen Gefühlen sind auch die psychischen Verwüstungen der Armut, die meine Kindheit, Jugend und mein junges Erwachsenen-Ich geprägt haben, immer noch Teil von mir – und sie werden es bleiben.
Über den Autor: Olivier David, geboren 1988 in Hamburg, ist freiberuflicher Journalist und Autor des Buches „Keine Aufstiegsgeschichte“ (Eden Books, 240 Seiten, 16,95 Euro).
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