Spielen und Streamen im Lockdown„Das Damengambit“ hat Schach-Boom ausgelöst
Christoph Kamp war vorgewarnt. Eigentlich. Eine Produktionsfirma aus Berlin hatte im Herbst 2019 Schachbretter, -figuren und -bücher sowie 50 mechanische Schachuhren bestellt. Für ein Projekt mit Netflix, hieß es. Hätte der Inhaber des Schachvertriebs Niggemann damals die Dimension dieses Projekts erahnt, hätte er seine Bestände aufgestockt. Hat er aber nicht. Und so wurde er ein Jahr später von einer Flut an Bestellungen überrollt. Vor allen Dingen mechanische Schachuhren, im modernen Spiel völlig überflüssig und weltweit nur noch bei einem einzigen Hersteller in der Produktion, wurden ihm aus den Regalen gerissen.
Wie hätte Kamp, der „wieder so ein kleines Schachfilmchen“ im Kopf hatte, aber auch vorhersehen können, dass mit all den bei ihm bestellten Utensilien die erfolgreichste Miniserie in der Geschichte des Streamingdienstes Netflix kreiert wurde? Wie hätte er wissen können, dass „Das Damengambit“ nicht nur mit seiner grandiosen Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy als Beth Harmon, dem bis ins kleinste Detail durchgestylten 50er/60er-Jahre-Look, einer emotionalen Geschichte und sehr professionellen Schach-Darstellungen ein Millionenpublikum begeistern, sondern wegen der Corona-Pandemie auch noch zusätzlich gleich mehrere Nerven der Zeit treffen würde?
Streamen und Spielen im Lockdown boomt
Filme zu streamen ist eine Freizeitbeschäftigung, die geblieben ist – und deshalb boomt. Genauso wie Spiele spielen. Beides geht zu Hause im Lockdown im kleinsten Familienkreis. „Das Damengambit“ vereint diese Pandemie-Hobbys in Perfektion. Sieben Folgen zum Mitfiebern und Mitleiden mit dem beruhigungsmittelabhängigen Waisenmädchen Beth Harmon, das zur grandiosen Schachspielerin mit dem Vermögen, russische Weltmeister zu schlagen, heranreift. Und ein Spiel, das via Internet, Zoom-Schulung oder mit der Hilfe von Fachliteratur erlernt werden kann und dann auf Grund seiner Kompliziertheit schön viel Lockdown-Zeit frisst. Hätten die Damengambit-Macher gewusst, dass der Welt eine Pandemie bevorsteht, sie hätten ihre Serie nicht besser konzipieren können.
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Die amtierende deutsche Schach-Meisterin Carmen Voicu-Jagodzinsky, ihren Mann und den zwölf Jahre alten Sohn hat es an einem verregneten Samstag im vergangenen November erwischt. Beth Harmon zog sie in ihren Bann und sie sahen alle sieben Folgen der Serie an diesem einen Tag. „Wir waren fasziniert“, gesteht die 39-Jährige. Sie stammt aus Rumänien, hat das Schachspielen mit fünf Jahren von ihrem Vater gelernt, wurde Weltmeisterin bei den Unter-Zehnjährigen, verdiente bis zur Geburt ihres Sohnes 2009 ihr Geld als Schachprofi und arbeitet heute in Hemer bei Iserlohn als Schachtrainerin. Sie unterrichtet an einer Schule, im Verein und ist als Trainerin für den Turnierschach-Nachwuchs in NRW zuständig.
„Gute Schachspieler sind oft besonders“
Voicu-Jagodzinsky ist wie Christoph Kamp begeistert davon, wie authentisch Schach in „Das Damengambit“ dargestellt wird. Dass mancher Charakter der Schachspieler etwas verschroben daherkommt, sei durchaus real. „Gute Schachspieler sind oft besonders. Das sind kluge Leute, keine einfachen Menschen“, sagt Voicu-Jagodzinsky. Besonders habe ihr gefallen, dass Beth Harmon in der Serie ihr Beruhigungsmittel-Problem lösen und im Team arbeiten musste, um eine wirklich große Schachspielerin zu werden. Genau das sei auch in der Realität wichtig. „Man muss sein eigenes Leben unter Kontrolle bringen – und allein kann man nicht so stark werden.“
„Die Darstellung von Schach ist in Filmen oft nicht authentisch“, sagt Kamp. In „Das Damengambit“ sei das jedoch gelungen. Der Einfluss von kundigen Beratern wie dem Ex-Weltmeister Garri Kasparow sei deutlich. Selbst bei den Nahaufnahmen einer Partie wurde nicht geschludert. Wenn die Figuren schnell gezogen werden mussten, kam ein Hand-Double zum Einsatz. Dann sind nicht die Hände von Anya Taylor-Joy im Bild, sondern die der deutschen Schach-Großmeisterin Filiz Osmanodja aus Dresden. Auch mit geschminkten Händen und künstlichen Fingernägeln sind ihre Bewegungen noch professioneller als die der Schauspielerin. „Das Fassen und Heben sieht bei jemandem, der als Schachspieler nicht erfahren ist, oft doch etwas eigenartig aus“, sagt Kamp.
Frauen in einer Männerwelt
Einzige Mankos aus Sicht der Profis: Die Spielschnelligkeit (Kamp: „In Wirklichkeit wird auch mal 30 bis 40 Minuten über einen Zug nachgedacht.“) und die Geräuschkulisse im Publikum (Voicu-Jagodzinsky: „Dass da geredet oder geklatscht wird, das gibt es nicht.“). Beides ist wohl der nötigen Dramaturgie geschuldet. Kamp rät dazu, die Serie mit Originalton zu schauen. Für die deutsche Synchronisation habe man offensichtlich auf Berater verzichtet und so sei das Vokabular für Schachprofis hin und wieder befremdlich, etwa wenn von einem „Spiel“ die Rede ist und nicht von einer „Partie“.
Carmen Voicu-Jagodzinsky hat sich als junges, schachbegeistertes Mädchen unter Jungs behaupten müssen und als weiblicher Schachprofi in einer Männerwelt. „Deshalb finde ich es fantastisch, dass die Hauptrolle in Damengambit eine Frau spielt“, sagt sie. Nur etwa zehn Prozent der Profispieler seien Frauen, was aber nicht bedeute, dass Frauen per se schlechter Schach spielten. Als Beweis führt Voicu-Jagodzinsky die Ungarin Judit Polgar an, die immer nur gegen Männer spielte und es als erste Frau in die Top Ten der Weltrangliste schaffte.
Schachuhren sind der Renner
Den Run auf mechanische Schachuhren kann sich Christoph Kamp nur mit nostalgischen Anwandlungen erklären. Im modernen Turnierschach werden sie längst nicht mehr benutzt – aber sie sind eben schön anzusehen. Ähnlich gut verkaufen sich bei ihm seit „Damengambit“ Schachcomputer und Anfängerliteratur. Da Präsenzschach an Schulen und in Vereinen seit Beginn der Corona-Pandemie nicht mehr möglich ist, sei der sonst übliche Umsatz bei Schachbrettern und -figuren allerdings zurückgegangen, sagt Kamp.
So verhindert die Pandemie wohl auch, dass Schachvereine deutlich vom Damengambit-Boom profitieren. Voicu-Jagodzinsky verzeichnet in ihrem Verein in Hemer eine leicht erhöhte Nachfrage und hat darauf mit dem Angebot eines Online-Eltern-Kind-Kurses reagiert. „Teilweise partizipieren Vereine nicht am Schach-Hype, teilweise schon“, sagt Andreas Gerdau, der Vorsitzende des Kölner Schachverbandes. „In Köln gibt seit der Aussetzung des Mannschaftssportes im Rahmen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie keine offiziellen Einzel- oder Mannschaftsturniere, weder real noch im virtuellen Raum.“ Einzelne Vereine organisierten aber Turniere auf der Internett-Plattform „Lichess“.
Infos
Beliebte Internet-Plattformen:www.lichess.orgwww.chess.com
Alles, was das Herz in Sachen Schach begehrt:www.schachversand.de
Mutter-, Vater-, Oma-, Opa/Kind-Schachkursewww.svhemer1932.de
Schach in Köln:www.koelner-schachverband.de
Anton Kaiser, Rechnungsführer im Kölner Schachverband und Geschäftsführer des Schachvereins Hürth-Berrenrath, hat in den letzten Jahren bei den Klubs deutlich rückläufige Zahlen festgestellt. „Dieser Damengambit-Boom findet im Internet statt und schlägt sich in den Mitgliederzahlen der Vereinen nicht nieder“, sagt er. Und hofft: Noch nicht. Wenn endlich wieder offline gespielt werden kann, in Turnhallen und Gemeindesälen, an Orten, an denen auch die junge, einerseits verletzliche und doch so starke und schlaue Beth Harmon ihren Weg begann, könnte sich das noch ändern.