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Alleinerziehend und arm in Köln„Meine Kinder waren nie beim Friseur“

Lesezeit 6 Minuten
Eine Frau, Monika Wilke, gut in die Kamera, von einer zweiten ist eine Rückenansicht zu sehen, sie schaut aus dem Fenster.

Monika Wilke und Andrea (Rückenansicht) sind alleinerziehend - und arm.

Der langjährige Südstadtpfarrer Hans Mörtter ruft zu einer Benefizveranstaltung gegen Kinderarmut in der Philharmonie auf. „Dass wir Kinderarmut hinnehmen, ist ein Skandal“, sagt er.

Am Tisch sitzen vier Frauen mit sehr unterschiedlichen Biografien. Eine ist gelernte Sozialarbeiterin, eine Krankenschwester, eine andere Kassiererin. Sie sind unterschiedlich alt, leben in verschiedenen Kölner Stadtteilen, haben andere Hobbys und Gewohnheiten. Und teilen das gleiche Schicksal: Andrea (39), Annika (38), Sonja (35) und Monika (55) sind alleinerziehend. Und vor allem deswegen sind sie arm.

Es ist ihnen nicht leichtgefallen, sich an diesen Tisch in einem Besprechungsraum der Lutherkirche in der Südstadt zu setzen. Keine Fotos, keine Namen, sagen drei von ihnen gleich zur Begrüßung. „Mein Sohn hat mich heute Morgen noch gefragt, ob ich mit Namen und Foto in die Zeitung komme, dann würden die Kinder in der Schule ihn mobben, weil er ja arm sei“, sagt Annika. „Ich musste ihm fest versprechen, das nicht zu tun.“

Ich hole Essen bei der Tafel oder auf dem Markt bevor abgebaut wird, kaufe Secondhand und nehme ein Darlehen auf, wenn wir einen neuen Kühlschrank brauchen
Andrea (Name geändert), Alleinerziehende aus Köln

Man merke es manchmal nur an Blicken, sagt Andrea. „In der Schule meiner Kinder in Nippes fahren die meisten Familien jetzt für zwei oder drei Wochen in den Urlaub, nach Italien oder Spanien. Meine Kinder müssen ihren Freunden sagen, dass sie ab und an ins Schwimmbad gehen, oder mal in einen Freizeitpark.“ Sonja sagt: „Arm zu sein, heißt ausgegrenzt zu werden. Man kann nicht einfach Eis essen gehen mit den Kindern wie andere, meine Kinder können nicht den Sport machen, den sie wollen, oder ein Instrument spielen. Ich hole Essen bei der Tafel oder auf dem Markt kurz bevor abgebaut wird, kaufe Secondhand und nehme ein Darlehen auf, wenn wir einen neuen Kühlschrank brauchen.“

Also heißen die Frauen für diese Geschichte Andrea, Annika und Sonja – und nicht, wie sie wirklich heißen. Monika Wilke dagegen sagt, sie habe kein Problem damit, zu sagen: „Ich heiße Monika Wilke und ich bin arm. Ich bin nicht selbstverschuldet in diese Situation gekommen. Ich glaube, dass das fast jedem passieren kann – obwohl das die wenigsten glauben.“ Monika Wilke hat Soziale Arbeit studiert und als Raumausstatterin gearbeitet. Ihr Mann sei irgendwann krank geworden, nach der Geburt des dritten Kindes habe sie deswegen Vollzeit gearbeitet. „Durch die Überlastungen mit drei Kindern und einem kranken Mann bin ich auch irgendwann krank geworden“.

Bertelsmann-Studie: 1,7 Millionen Alleinerziehende mit Kindern gelten in Deutschland als arm

Sie habe sich aufgerappelt, eine Umschulung gemacht, mit ihrem Mann sei es immer schwieriger geworden, irgendwann kam die Scheidung, ein Prozess um Unterhalt, ständig musste sie sich jetzt mit Behörden auseinandersetzen. Sie erlitt einen Schlaganfall, einen zweiten. „Armut macht krank“, sagt die 55-Jährige. Die anderen Frauen am Tisch nicken.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung galten im vergangenen Jahr gelten 1,7 Millionen Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern als einkommensarm. Das entspricht einer Quote von 41 Prozent. Bei Paar-Familien mit einem Kind galten nur acht Prozent als arm, weil sie wenig oder kein Einkommen hatten. Rund 82 Prozent der Alleinerziehenden, die als arm gelten, sind Mütter.

Andrea ist nicht im eigentlichen Sinne alleinerziehend, aber ihr Mann ist ebenfalls chronisch krank, „Long Covid“, sagt sie, „eigentlich ist das wie ein drittes Kind“. Sie lebe mit Mann und den zwei Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Nippes, 68 Quadratmeter, ihr Vermieter sei nett, da habe sie großes Glück. „Aber am 18. oder 19. eines Monats, wenn es gut läuft am 20. oder 21., ist das Geld weg.“ 900 Euro blieben ihnen zu viert nach Abzug von Miete und Nebenkosten pro Monat zum Leben. Sie verdiene etwas dazu, durch Putzen oder Hilfen in der Nachbarschaft, „aber es reicht trotzdem hinten und vorne nicht“. Dabei kaufe sie Klamotten und Möbel Secondhand, gehe zur Tafel, leiste sich selbst nichts, „also gar nichts“, damit der Sohn zum Geburtstag ins Aqualand fahren könne oder in den Sommerferien in einen Freizeitpark. „Nur ein Beispiel: Meine Kinder waren noch nie beim Friseur. Wie sieht es bei Euch aus?“ Kopfschütteln in der Runde.

Auf dem Foto sind Hände von vier Frauen zu sehen.

Drei der vier alleinerziehenden Kölnerinnen wollen anonym bleiben. Sie haben Angst, stigmatisiert zu werden. Im Alltag erleben sie das oft.

„Absurd“ findet es Andrea, dass das Kindergeld als Einkommen gezählt und aufs Bürgergeld angerechnet werde – „dadurch bleiben mir von den 250 Euro pro Kind nur ungefähr zwei Drittel davon. Dabei reichen schon 250 Euro kaum aus“. Von dem Bürgergeld solle sie auch noch für Anschaffungen wie eine neue Waschmaschine oder Spülmaschine etwas zurücklegen – „das geht nicht, und deswegen macht man sich ständig Gedanken, wie man die nächste Woche und den nächsten Monat überstehen soll – und das natürlich möglichst, ohne dass die Kinder es merken“.

Sie fasse es nicht, dass die Bundesregierung die in Aussicht gestellte Kindergrundsicherung bis heute nicht durchgesetzt habe, sagt Andrea. Leistungen aus dem Bürgergeld für Kinder oder der Kinderzuschlag sollen mit dem Prestigeprojekt der Grünen gebündelt werden. So sollen alle Kinder, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, erreicht werden. Und arme Familien mit Kindern bessergestellt werden.

Zeichen gegen Kinderarmut in der Kölner Philharmonie: Mit Bläck Fööss und vielen anderen Künstlern

Annika ist gelernte OP-Krankenschwester, aber ihre jüngere Tochter ist vier, „Schichten zu arbeiten, geht da nicht“. Und schon gar nicht, wenn die Kita wie im Falle der Tagesstätte ihrer Tochter „eigentlich fast nur noch auf Zuruf betreut“. Die Kita habe akuten Personalmangel, seit Monaten schon, „an manchen Tagen kann die Kleine nur an zwei Tagen betreut werden, dabei hat sie einen 45-Stunden-Vertrag“.

Es ist ein großer gesellschaftlicher Skandal, dass in Deutschland viele Hunderttausend Mütter mit ihren Kindern in Armut geraten, weil sie alleinerziehend sind
Hans Mörtter, Pfarrer

Wenn sie einen Minijob annehme, was sie schonmal gemacht habe, „verdiene ich am Ende nur zwei, drei Euro mehr als Bürgergeld – und dafür muss ich jede Stunde nachweisen“. Sonja und Andrea haben ähnliche Erfahrungen gemacht. „Wer geht dafür arbeiten?“

In dem Besprechungsraum der Lutherkirche sitzen die vier Frauen, weil der langjährige Südstadt-Pfarrer Hans Mörtter und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter mehr als einmal eingesprungen sind, wenn es um die Finanzierung von ein paar Tagen Urlaub oder um die Finanzierung eines neuen Kühlschranks ging. Ähnlich wie sein katholischer Kollege Franz Meurer in Vingst/Höhenberg und viele andere engagierte Kölnerinnen und Kölner spielt Mörtter Feuerwehrmann, wenn es sozial brennt – und es brennt immer öfter, vor allem bei Alleinerziehenden. „Es ist ein großer gesellschaftlicher Skandal, dass in Deutschland viele Hunderttausend Mütter mit ihren Kindern in Armut geraten, weil sie alleinerziehend sind“, sagt er. Für Köln brauche es eine „Task Force“ aus Ehrenamtlichen und der Stadtverwaltung, um diesem Missstand zu begegnen.

Wenn ich lese, dass die Stadt Köln mehr als eine Milliarde Euro in die Sanierung der Oper steckt, denke ich, was man mit dem Geld gegen Kinderarmut alles machen könnte
Annika (Name geändert), alleinerziehende Mutter aus Köln

Bevor es die gibt, will Mörtter mit einer Benefizveranstaltung am 11. September in der Philharmonie ein Zeichen gegen Kinderarmut setzen. Lina Bo, Gerd Köster, die Bläck Fööss, Sandra und Lázaro Calderón, Szenario & Christoph Broll, Druckluft, Kozmic Blue, Richard Bargel, der Kabarettist Wilfried Schmickler und Michael Kokott und seine Chöre gehören zu den Künstlerinnen und Künstlern, die bei dem Abend auf jene Armut mitten unter uns aufmerksam machen, die vor allem Alleinerziehende und deren Kinder trifft. Ingrid Hack, Geschäftsführerin des Vereins Kindernöte Köln, und Pia Klemp, die als Kapitänin lange Seenoteinsätze im Mittelmeer leitete, habe er eingeladen, „weil sie sich unermüdlich für Menschlichkeit einsetzen und handeln, statt zu resignieren“, so Mörtter. Der Erlös der Veranstaltung „SOS — Glow up your power“ kommt dem Verein Kindernöte Köln zugute.

Andrea (39), Annika (38), Sonja (35) und Monika (55) werden am 11. September in der Philharmonie in der ersten Reihe sitzen. Keine der vier Kölnerinnen war je in der Philharmonie. „Wenn ich lese, dass die Stadt Köln mehr als eine Milliarde Euro in die Sanierung der Oper steckt, denke ich, was man mit dem Geld gegen Kinderarmut alles machen könnte“, sagt Annika. „Wir zumindest werden alle nie in die Oper gehen.“

Karten für die Veranstaltung „SOS — Glow up your power“ gibt es bei allen bekannten Vorverkaufsstellen.