„Jugendhilfe zweiter Klasse“Nach 121 Absagen – Geflüchteter entscheidet sich, im Auto zu schlafen

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Blick auf die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete am Kölner Südstadion

Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete am Kölner Südstadion (Symbolbild).

Viele minderjährige Geflüchtete leben in Köln ohne Jugendhilfe und Perspektive. Die Situation sei dramatisch, sagen Experten.

Jüngst musste ein Mitarbeiter der Stadt Köln mit einem minderjährigen Geflüchteten nach Karlsruhe fahren, weil der Jugendliche dort eine Unterkunft in Aussicht hatte. Ein Flüchtling, der 2017 nach Köln kam, hier einen Schulabschluss und einen Führerschein machte, eine Ausbildung begann und voll integriert war, hat bis heute keine Wohnung gefunden.

„Vor einiger Zeit“, berichtete Sabine Schick vom Jugendamt in der jüngsten Sitzung des Runden Tischs für Flüchtlingsfragen, „hat sich der junge Mann entschieden, in seinem Auto zu schlafen.“ 121-mal habe er sich für Zimmer und Wohnungen vorgestellt – ohne Erfolg. Sieben Jahre hatte die Kölner Jugendhilfe Geld für die Integration investiert.

Köln: 93 unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind aktuell ohne Perspektivplanung untergebracht

93 der insgesamt rund 600 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten befinden sich in Köln aktuell „ohne Perspektivplanung in Obhut“, referierte Schick. Sprich: Sie haben ein Dach über dem Kopf, werden aber nicht nennenswert betreut. „Die Infrastruktur der Kölner Jugendhilfe kann die Bedarfe aufgrund des Fachkräftemangels und mangelnden Wohnraums nicht adäquat zur Verfügung stellen“, sagte Schick. „Es ist eine Tragödie, wenn man mit einem Jugendlichen nach Karlsruhe fahren muss, weil er dort möglicherweise eine Unterkunft erhält, und ein junger, gut integrierter Mann im Auto schlafen muss.“

Viele minderjährige Geflüchtete müssen in Köln mit einer Jugendhilfe 2. Klasse leben. Das ist meine persönliche Meinung
Sabine Schick, Jugendamt der Stadt Köln

Der Jugendliche, der im Auto schläft, ist ein Extremfall. Viele minderjährige Geflüchtete müssten indes in Köln mit einer „Jugendhilfe 2. Klasse“ auskommen, sagte Schick. Das, betonte sie, sei nicht die Meinung der Stadt Köln, sondern „ihre persönliche“.

Asyl: In Kölner Unterkünften leben Jugendliche aus vielen Kulturen fast ohne Privatsphäre 

„Betreuung 2. Klasse“, damit meint Schick knapp 250 Geflüchtete, die nicht die standardmäßigen Leistungen der Jugendhilfe erhalten, sondern „Brückenlösungen“, wie die Verwaltung formuliert. So werden aktuell 70 unbegleitete Jugendliche in der Jugendherberge „Pathpoint“ in der Nähe des Breslauer Platzes untergebracht.

Dort treffen Heranwachsende verschiedener Nationalitäten und Kulturen aufeinander, die zum Teil schwer belastet sind, zum Beispiel auch junge Männer aus der Ukraine und aus Russland. Betreut werden sie zum Teil von Hilfskräften, die nicht dafür ausgebildet sind, zwischen Menschen verschiedener Kulturen zu vermitteln, die möglicherweise schwer traumatisiert sind.

Porträt von Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer vom Kölner Flüchtlingsrat

Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer vom Kölner Flüchtlingsrat

Die Standards der Betreuung seien hier stark reduziert, sagte Schick. Die Jugendlichen schlafen in der Regel in Zwei- bis Sechs-Bett-Zimmern, den Großteil der Tage verbringen sie in einem Gemeinschaftsraum. Privatsphäre gibt es nicht. „Wir haben die Belegung schon von 100 auf 70 reduziert, aber glücklich sind wir mit der Lösung dennoch nicht“, so Sozialarbeiterin Schick.

Prölß: Kölner Jugendamt fehlt Personal

Im Wesentlichen werde mit den Brückenlösungen sichergestellt, dass die Jugendlichen nicht obdachlos werden, teilt die Stadt Köln auf Anfrage mit. Fehlende Räume und Fachkräfte seien die Gründe für die „Brückenlösungen“. Die Jugendhilfe sei „in einer schwierigen Situation“.

„Das Jugendamt tut, was es kann, aber es fehlt vorne und hinten an Personal“, sagt Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats. „Das Recht der Minderjährigen auf Betreuung, Schutz und Fürsorge kann nicht durchgehend gewährleistet werden, die Jugendlichen werden sich selbst überlassen, die Situation ist dramatisch.“ Und das in einer Stadt, die seit 2018 das Siegel „kinderfreundliche Kommune“ trage und vor zwei Jahren einen Aktionsplan verabschiedet habe, in der das Recht von allen Minderjährigen auf Betreuung und Wohlergehen festgehalten worden war.

Europaweit gelten mehr als 51.000 minderjährige Flüchtlinge als vermisst

„Unbegleitete minderjährige Geflüchtete gehören zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen nach der EU-Aufnahmerichtlinie, die in Deutschland unmittelbar angewendet werden muss“, sagt Prölß. „Diese besonderen Bedürfnisse müssen identifiziert und gedeckt werden – das schafft die Stadt Köln aktuell nicht.“

Jüngst hatte das internationale Journalistennetzwerk Lost in Europe recherchiert, dass europaweit mehr als 51.000 minderjährige Flüchtlinge als vermisst gelten. Knapp 2000 Geflüchtete entfielen dabei auf Deutschland, hatte das Bundeskriminalamt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ jüngst mitgeteilt. Auch in Köln gebe es junge Geflüchtete, die verschwänden, teilt die Stadt mit.

Einige wollten sich nicht auf die Rahmenbedingungen der Jugendhilfe einlassen, andere setzten ihre Flucht zu Bekannten oder Verwandten in anderen Städten oder Ländern fort. Claus-Ulrich Prölß sieht einen Grund für das Abtauchen der Jugendlichen in der „massiven Überforderung der Jugendhilfe“, die „viel zu oft sich selbst überlassen bleiben“. Die Stadt Köln, aber auch Land und Bund dürften dabei nicht länger zuschauen. „Der Staat ist verpflichtet, gegen Kindeswohlgefährdung vorzugehen.“ Tue er es nicht, „verlieren die Jugendlichen eine Perspektive und der Staat an Vertrauen“.

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