AboAbonnieren

Depeche Mode in MüngersdorfZehntausende verletzte Seelen in Verzückung

Lesezeit 3 Minuten
20170605max-depeche005

Dave Gahan, Frontmann von Depeche Mode.

Köln – Zuerst singt John Lennon von seinem zwiespältigen Verhältnis zur "Revolution", dann schlurfen LED-Füße über die Leinwand, und schon, pünktlich um 20.45 Uhr steht die Band auf der Bühne im Rhein-Energie-Stadion. Andy Fletcher gewohnt stoisch auf dem Podest hinter seinem Keyboard, Martin Gore, um dessen Songs es hier doch vor allem geht, ganz bescheiden daneben, im roten Dinner-Jackett. Und schließlich stolziert auch Dave Gahan ins Offene, lässt auf einem Steg zwischen den LED-Wänden die Hüfte kreisen, vollführt teuflische Tai-Chi-Übungen.

Schuldner unserer eigenen Unzurechnungsfähigkeit

"Wir gehen rückwärts", stellt er gleich im ersten Song des Abends fest. Wir seien immer noch Schuldner unserer eigenen Unzurechnungsfähigkeit. Der schmale Mann mit dem noch schmäleren Bärtchen wirkt halb wie ein Erweckungsprediger, halb wie ein gockelhaftner Don Juan. Was er singt ist bitter, aber wahr.

Seit 37 begleiten Gahan und die Band, deren Stimmrohr er ist, den Lauf der Zeit. Und bestimmt sind Depeche Mode nicht nur mitgelaufen, sie haben auch immer mal wieder die Wegstrecke und das Tempo vorgegeben. Da dürfen die Briten solche großpolitischen Beobachtungen doch mit einiger Autorität ins Rund des Kölner Stadions werfen. Freilich erntet Gahan dafür kein kritisches Kopfnicken, sondern den Jubel der rund 45.000 Fans. Er ist gut bei Stimme, das ist viel wichtiger.

Alles zum Thema RheinEnergieStadion

Gut, dass das Gros der neuen Songs gleich zu Anfang abgefeuert wird, für Gahans Ausdruckstänzchen zu "Corrupt" gibt es dann den ersten Jubelsturm. Zu "Cover Me" lässt sich Gahan auf dem Laufsteg feiern.

Dann darf endlich mal Martin Gore ans Mikrofon, zu einer akustischen Version von "A Question of Lust", eine seiner schmerzlich-schönen Balladen von der sexuellen Hörigkeit. Gore fehlt das Temperament zum Frontmann, aber eigentlich ist er der beste Sänger der Band. Am Ende seines zweiten Solostücks ("Home") nimmt auch er ein Bad in der Menge.

Später lässt er es sich dann nicht nehmen, die kleine Keyboard-Melodie zu "Everything Counts" selbst zu spielen. Und schon singt das ganze Stadion "alles zählt in großen Mengen", was damit bewiesen wäre.

Tausende verletzte Seelen in Verzückung

Danach kann nichts mehr schiefgehen: "Enjoy the Silence" rollt mit mächtiger Bassdrum heran, versetzt Zehntausende verletzte Seelen in Verzückung. Gahan dreht Pirouetten, feuert zu "Never Let Me Down Again" mit einer T-Shirt-Kanone in die Menge.

Im Zugabenteil - der mit Martin Gores waidwundem Wunsch nach "Somebody" beginnt - dann das einzige Cover des Abends, David Bowies "'Heroes'", ganz dem Sound der Band anverwandelt. Die Hommage an den Jugendheld und anderen großen Sich-Neuerfinder überrascht nicht, aber musste es ausgerechnet dessen totgehörte Helden-Hymne sein? Doch, musste es: Dave Gahan war 1980 als Sänger zur just formierten Band gestoßen, nachdem Gründungsmitglied Vince Clark den damals 18-jährigen Busfahrersohn in einem Pfadfinderheim ebenjenen Song hatte schmettern hören.

Held sein für einen Tag, das kann jeder. Depeche Mode aber sind nun Helden für bald vier Jahrzehnte, sie haben den Blues im Synthie-Pop gefunden, die Stadionhymnen in der eigenen Verletzlichkeit. Sie sind Pop-Couturiers, die sich ihre eigenen Kleider maßschneidern, unabhängig jeweiliger Trends. Unsere eigenen, ganz persönlichen Erlöser. Was, also "Personal Jesus", wie nicht anders erwartet, den erhebenden Abend beschließt. Bleibt die Frage, zu welchem Schloss der goldene Schlüssel passt, den Dave Gahan als Halskettenanhänger trägt?