Köln – Sie sind wieder da. Unübersehbar, unüberhörbar. „Ihr verarscht mich doch alle“, brüllt ein Mann mit schwarzem Kapuzenpulli und Dreitagebart am Mittwochmittag über den halben Neumarkt. „Ich hab heute schon fünf Euro Verlust gemacht! Hau ab jetzt!“, herrscht er neben dem KVB-Wartehäuschen der Linie 1 einen schmächtigen Mann mit Rucksack an. Worum es genau geht – ungewiss. Klar scheint, dass es sich bei dem Bärtigen um einen Drogendealer handelt. Gleich mehrfach ist in den nächsten zwei Stunden zu beobachten, wie er Menschen etwas in ihre Handflächen legt und im Gegenzug Geld zugesteckt bekommt. Am Nachmittag schlendert der Mann über den Platz und zählt konzentriert Geldscheine, vorwiegend Zehn- und Fünf-Euro-Noten, die er in einem roten Brillenetui mit sich herumträgt.
Drogendealer handeln völlig offen - ohne Sorge vor der Polizei
Seit der Weihnachtsmarkt abgebaut und der Neumarkt wieder ungehindert zugänglich ist, sind auch das Elend und die Kriminalität wieder sichtbar. An verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Uhrzeiten hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ sich in dieser Woche Eindrücke verschafft – die Bilder waren fast immer dieselben: Dealer, die offenkundig ohne Sorge, erwischt zu werden, Rauschgift und Medikamente an Abhängige verkaufen. Junkies, die sich vor aller Augen Heroin aufkochen. Obdachlose, die scheinbar ziellos über den Platz mäandern und immer wieder in Konflikte untereinander oder mit Dealern und Abhängigen geraten.
SPD-Fraktionschef Christian Joisten bezeichnete den Neumarkt unlängst als „Sinnbild für Drogen, Angst und Verwahrlosung“. Oberbürgermeisterin Henriette Reker fand im „Kölner Stadt-Anzeiger“ deutliche Worte: „Wir erleben auf einem zentralen Platz in unserer Stadt, wie gedealt wird und offen Drogen konsumiert werden.“ Diese Situation sei nicht hinnehmbar. Es bestehe „ohne jeden Zweifel dringender Handlungsbedarf“. Die Probleme, die durch Drogenkonsum und Obdachlosigkeit entstünden, werde man aber nicht kurzfristig lösen können.
„Es gab zuletzt ein paar Reinigungsaktionen, drei neue Lichtmasten wurden aufgestellt und der Container von der Stadt“, berichtet Walter Schuch diese Woche, zweiter Vorsitzender der Bürgerinitiative Zukunft Neumarkt e.V. Aber die Probleme seien weiterhin da, „mehr oder weniger unvermindert“.
Neue Anlaufstelle wird „gut angenommen“ - wenn sie denn geöffnet ist
Der graue Container von der Stadt ist mit einem bunten Plakat verkleidet, das Personalwerbung für das Ordnungsamt macht. Seit einigen Wochen steht er auf der Ostseite des Neumarkts, gegenüber dem Eingang zur Schildergasse. Sieben Stunden täglich sei er besetzt, berichtet eine Stadtsprecherin: zwischen 9 und 12 Uhr sowie zwischen 13 und 15 Uhr von „Kümmerern“ – also Sozialarbeitern – von Stadt und KVB. Und von 15 bis 17 Uhr von Mitarbeitenden des „Aufsuchenden Suchtclearings“.
Im Schnitt vier- bis sechsmal täglich meldeten Passanten, Anwohnerinnen oder Geschäftsleute vor allem obdachlose Menschen, die Haus- und Geschäftseingänge blockierten und Junkies, die in der Öffentlichkeit Drogen konsumierten. Die Kümmerer leisteten Beobachtung, Betreuung und Beratung, sagt die Stadtsprecherin. Die neue Anlaufstelle werde „schon gut angenommen“, das Projekt „kann einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung der Situation am Neumarkt leisten“. Kann.
Junges Paar inhaliert Heroin vor aller Augen
Mittwochmittag, 15 Uhr. Der Container ist verwaist, die Rollläden vor den zwei großen Fenstern heruntergelassen, seit mindestens eineinhalb Stunden – obwohl die Anlaufstelle laut Mitteilung der Stadt um diese Zeit eigentlich geöffnet sein sollte.
Ein junges Paar nimmt mitten auf der Treppe Platz, sie führt gleich neben dem Container in die U-Bahn-Zwischenebene hinab. Die Stufen werden nicht von der Videobeobachtung der Polizei erfasst. Die Frau holt eine Rolle Alufolie aus ihrem Rucksack, reißt ein Stück ab, legt Heroin darauf und erhitzt die Folie von unten mit einem Feuerzeug. Dann beginnen beide, den aufsteigenden Dampf durch selbst gedrehte Röhrchen zu inhalieren - Folie rauchen, wie es im Jargon heißt.
Genau in diesem Moment werden oben die Rollläden des Containers hochgezogen, im Inneren nimmt ein Mann auf einem Bürostuhl Platz und telefoniert mit seinem Handy. Das Paar, das er von seinem Stuhl aus nicht sehen kann, inhaliert weiter, unbeirrt. Zwei Passantinnen kommen die Treppe hoch, sie starren das Paar an, dann sich gegenseitig und gehen mit ungläubigen Blicken weiter.
Ein Polizist in Uniform folgt kurz darauf. Er beachtet die beiden Heroinabhängigen gar nicht, sondern steuert die Straßenbahnhaltestelle an. Drogenkonsum ist nicht strafbar, nur der Besitz und der Handel damit. Um 15.45 Uhr fahren die Rollläden vor dem Container wieder herunter, der Kümmerer mit dem Handy steigt auf ein Rad und fährt davon.
Fragt man Walter Schuch von der Bürgerinitiative Zukunft Neumarkt nach den beiden wichtigsten Maßnahmen, die als nächstes auf dem Neumarkt getroffen werden müssten, sagt er: „Zuallererst ein funktionierendes Hilfsangebot“ und meint damit vor allem den Drogenkonsumraum, den die Stadt seit langem am Neumarkt errichten will und der frühestens Ende März im Gesundheitsamt in Betrieb gehen soll.
„Das zweite“, sagt Schuch, „wäre eine moderne und saubere Toilettenanlage“ – vielleicht mit Wickeltisch, Aufenthaltsräumen für die Sicherheitskräfte und Sozialarbeiter und einem Raum, in dem Obdachlose mitgebrachte Mahlzeiten zu sich nehmen könnten. Ein solcher fester Bau sei die Basis für die Wiederbelebung des Neumarkts mit öffentlichem Leben, ist Schuch überzeugt. Eine Toilette käme seiner Meinung nach auch den vielen Taxifahrern vom Haltestand gegenüber zu Gute. „Wer weiß, vielleicht würde sich der Taxiruf auch mit einer kleinen Summe an der Unterhaltung beteiligen, wir denken da ganz pragmatisch.“
„Hier wird nicht entschieden und gemacht, sondern verwaltet“
Aber statt endlich loszulegen, so klagt die Bürgerinitiative auf ihrer Homepage, blockierten sich einzelne Bereiche innerhalb der Stadtverwaltung gegenseitig, die eine Hand wisse nicht, was die andere tue. „Hier wird nicht entschieden und gemacht, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verwaltet und immer wieder gesagt, was alles nicht geht.“
Donnerstagmorgen, 9.30 Uhr. Der Container ist besetzt, zwei Männer vom Ordnungsamt stehen davor. Der Berufsverkehr ist durch, die Geschäfte noch nicht geöffnet, um diese Zeit wirkt der Neumarkt friedlich, fast wie leer gefegt. Nur ein einzelner Dealer steht neben dem Kiosk am Bahnsteig Richtung Rudolfplatz und mustert die Vorübergehenden. Wer seinem Blick länger als zwei Sekunden standhält, wird gefragt: „Brauchst du was?“
Aber schon vier Stunden später, um 13.30 Uhr, herrscht wieder das andere, das gewohnte Bild: Dealer lungern in Kleingruppen um einen Zeitungskasten am Bahnsteig Richtung Rudolfplatz herum und bedienen die vorbeieilende Kundschaft. Auf der Treppe zur U-Bahn-Zwischenebene kocht eine Frau Heroin auf, neben sich eine geöffnete Flasche Bier. Die Rollläden der Anlaufstelle sind geschlossen.