Der Wiener Platz, das Zentrum von Köln-Mülheim, ist für manche ein Ort, an dem zu viel Gewalt herrscht. In den zurückliegenden Monaten gab es mehr Fälle von Körperverletzung als sonst.
Noch mehr Anwohner aber ekeln sich einfach – vor dem allgegenwärtigen Siff, der Taubenkacke, dem Erbrochenen.
Dabei gibt es Ideen, wie man den Platz zurückerobern könnte. Besuch an einem Ort, der eine Chance verdient hätte.
Köln – Ein Samstagvormittag auf dem Wiener Platz. Es ist viel zu kalt für Anfang Mai, außerdem regnet es. Wer kann, verschwindet in eines der dunklen Löcher Richtung U-Bahn.
Ein paar Leute bleiben oben, um Gemüse zu verkaufen, Fleisch oder Handtaschen. Leute mit Flyern, Luftballons und Fähnchen stehen herum. FDP und DKP sind hier, bald ist Europawahl. In einem Zelt liest ein Mann in ockerfarbener Cordhose und olivgrünem Parka einen wirtschaftstheoretischen Vortrag in ein Mikro. Hinter ihm hängt eine Regenbogenflagge, auf der das Wort „Peace“ steht. Er spricht über Welthandel und transnationale Verwertungsketten. Niemand hört ihm zu. Ein paar Meter weiter trinkt jemand eine Pulle Killepitsch, ein hochprozentiger Kräuterlikör, mit einem Zug mindestens zur Hälfte leer und hält sich mit Mühe auf den Beinen. Ein anderer stellt einen mittlerweile ziemlich braun gewordenen Weihnachtsbaum an einem Straßenschild ab, zieht sich die Kapuze über den Kopf und geht weiter. Eine halbe Stunde später ist der Baum weg, ein paar Nadeln bleiben auf dem Boden zurück.
Ein Samstagvormittag am Wiener Platz eben. Für Christiane von Scheven ergeben solche Momentaufnahmen ein Gesamtbild. Und zwar kein angenehmes. Seit 40 Jahren lebt die ehemalige Apothekerin hier und ekelt sich jeden Tag. Als sie durch die Unterführung läuft, die Wiener Platz, U-Bahn, Ladenzeile und Buchheimer Straße verbindet, schüttelt sie sich. „Schauen Sie sich den ganzen Siff an, den Schmodder, das ist einfach ekelhaft“, sagt sie. Sie zeigt an Decken und Wände. In allen Ecken liegt Müll, Tauben haben alles zentimeterdick zugekackt. Irgendjemand war offenbar betrunken genug, um sich zu erbrechen. An der ehemals weißen Decke hängen seit Wochen die getrockneten Reste einer dunkelbraunen Flüssigkeit, über deren Herkunft man lieber nichts wissen will.
Wenn der zentrale Platz das Gesicht eines Stadtteils sein soll, hat Mülheim ein völlig verwahrlostes Antlitz. „Es müsste einfach mal saubergemacht werden. Das wäre ein Anfang“, sagt von Scheven. Dreimal täglich, heißt es von der Stadt, werde der Boden gekehrt, einmal pro Woche feucht gewischt. „Alle Abfalleimer werden dreimal am Tag entleert. Das Entfernen von Graffiti erfolgt im Bedarfsfall.“ Abstoßende Flecken an der Decke gelten offenbar nicht als „Bedarfsfall“.
So steht der Wiener Platz für etwas, das Soziologen und Psychologen längst bewiesen haben: Dass das Erscheinungsbild eines Ortes Publikum selektiert und Gebaren prägt. „Es gibt Tage“, sagt von Scheven, „da muss die Polizei innerhalb mehrerer Stunden gleich dreimal kommen.“ Trotzdem: Angst habe sie nicht. Sie kennt den Platz, und der Platz kennt sie. Man tut sich nichts. „Aber es gibt Leute, die haben Angst, das weiß ich. Die gehen Umwege, um hier nicht vorbeizukommen.“
Tatsächlich gab es in den zurückliegenden Monaten mehr Fälle von Körperverletzung als im Vorjahr. Zwischen Januar und April waren es etwa 50, wie Polizeisprecher Christoph Gilles sagt. Die meisten davon „szene-intern“, wie es die Polizei nennt. Täter und Opfer kommen aus dem selben Kreis, halten sich wahrscheinlich häufig zusammen hier auf. „Der Wiener Platz ist auch nach wie vor ein Brennpunkt der Drogenkriminalität“, sagt Gilles. Gedealt und konsumiert werde vor allem Heroin, anders als am Ebertplatz, wo die Marihuana-Szene Probleme macht. „Je nach Jahreszeit halten sich permanent zwischen 15 und 30 Personen in der Unterführung auf“, sagt Gilles. Dafür, dass es dieser Ort und kein anderer ist, sorgen auch die Substitutionspraxen im Dunstkreis.
Die Junkies gehörten zu von Schevens Kunden. In der Apotheke, erzählt sie, habe sie immer wieder Methadon an Abhängige ausgegeben, die dann mit dem Zeug gedealt hätten. Dennoch: „Die Leute haben ja auch ein Recht, hier zu sein. Niemand will sie vertreiben“, sagt von Scheven. Auch die Polizei hält einen Junkie-freien Wiener Platz für unmöglich. „Eine komplette Verdrängung des Klientels wäre illusorisch und nicht wünschenswert“, sagt Gilles. „Es gibt nun mal eine Drogenszene in Köln. Und wenn die nicht hier wäre, dann würde die sich eben woanders tummeln.“
Wenige Minuten entfernt vom Wiener Platz zeigt sich am Mülheimer Rheinufer, wie es funktionieren kann: ein durchmischtes Publikum, ein weitgehend sauberer Ort, der zum Verweilen einlädt. „Wenn uns so eine Durchmischung auch am Wiener Platz gelingen würde, wäre das perfekt“, sagt von Scheven. Doch wer sich häufiger am Wiener Platz aufhält, denkt wohl eher an die Nachteile des schönen Wetters. Dann steht die Hitze in dem Betonkessel, der von weitgehend uninspirierten Plattenbauten umschlossen wird. Dann klebt der Boden unter den Füßen, es stinkt nach Urin, der Fettgeruch der Hähnchengrills setzt sich in der Nase fest. Das ist der Duft vom Wiener Platz.
Christiane von Scheven will den Zustand nicht länger hinnehmen. Einen solchen Ort könne sich das boomende Mülheim nicht leisten, sagt sie. „Wir müssen uns den Wiener Platz Stück für Stück zurückerobern.“ Mehr Grün, ein Wasserbecken quer über der großen freien Fläche, ein Glasverbot und verschiedene Kunstprojekte stehen zur Diskussion. Die Lösungen, sagt von Scheven, liegen auf der Hand. Sie müssen nur umgesetzt werden. „Warum machen wir es uns hier nicht einfach wieder schön?“