„Ich habe so richtig Lust zu leben“Wie sich eine Kölnerin mehrmals neu erfand
- Wie reagieren Menschen – was erzählen sie, wenn man sie auf der Straße anspricht und zu einem Kaffee einlädt?
- Dieser Frage geht Susanne Hengesbach regelmäßig nach. Diesmal geht es um die Wahl-Kölnerin Nicola Niegel.
- Die 54-Jährige restauriert alte Möbel und upcycelt Gegenstände, die andere weggeworfen haben.
Köln – Es ist Herbst geworden, seit der letzten Kaffee-Begegnung vor meinem Urlaub, es ist kühl und regnet. Schlechte Voraussetzungen. Aber wie heißt es doch so schön in Köln: Et hätt noch immer jot jejange. Meine Rettung naht in einem leuchtend-violetten Mantel und entführt mich in das charmante Café Laura, das man als gastronomische Bereicherung des Gotteswegs betrachten muss.
Wie sie nach Köln gekommen ist, frage ich Nicola Niegel, nachdem ich erfahren habe, dass sie aus Helmarshausen im Kreis Kassel stammt. Daraufhin erzählt mir die studierte Pädagogin, dass sie im Alter von 35 „ohne alles“ am Rhein gelandet sei. Vorher habe sie in Heidelberg gelebt und da nicht nur den Mann und ihr ganzes soziales Umfeld aufgegeben, sondern auch die Chance der Verbeamtung – und das, obwohl die Tätigkeit als Lehrerin „immer mein Traumberuf gewesen“ ist.
Weshalb ihre Wahl auf Köln gefallen sei, frage ich. „Weil mir die Stadt gefiel und ich fand, sie passt zu meinem Charakter“. Welche Eigenschaften sie vor allem meine, frage ich mein Gegenüber. „Unkompliziert, kommunikativ, offen, spontan, neugierig und in vielerlei Hinsicht vielseitig“, sagt die 54-Jährige.
Köln hat die Erwartungen erfüllt
„Und hat die Stadt ihre Erwartungen erfüllt?“ – „Ja, in vielfacher Weise“, betont Niegel und berichtet von dem älteren Herrn, der ihr, die damals nichts vorweisen konnte, die Chance gegeben habe, in eine schöne Wohnung in Mülheim ziehen zu können. Sie erzählt, dass sie mit 40 Mutter wurde und dass es doch noch geklappt habe mit der Verbeamtung. Sie erzählt aber auch, dass sie „mit der Doppelanforderung nicht klargekommen“ sei; mit ihrer Rolle als allein erziehende Mutter ohne familiäre Unterstützung einerseits und der beruflichen Anforderung mit zwei Korrekturfächern (Deutsch und Französisch) und dem langen Schulweg nach Rösrath andererseits. Die Folge war ein Burnout.
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Nach ihrer Wiedereingliederung sei sie in Köln an eine Brennpunkt-Schule versetzt worden und nach einiger Zeit erneut in den Erschöpfungszustand gekommen. Weil sie sich beim ersten Mal geschworen hatte: „Wenn dir das noch mal passiert, gehst du aus dem Job.“ „Und nun?“, frage ich. Nun sei sie nach 14 Jahren Schuldienst frühverrentet, „und ich gehe dem nach, was meine Leidenschaften sind“.
Sie sei ein bescheidener Mensch, ein „kreativer Charakter“ und jemand, der sich die Fähigkeit, „mit den Augen eines Kindes auf die Dinge zu schauen“, erhalten habe. Sie lebe heute unter anderem von dem, was andere Leute wegwerfen, sagt die 54-Jährige und schildert, wie sie auf der Straße stehende Gegenstände upcycelt, alte Möbel aufhübscht oder restauriert und als Vintage-Händlerin auf Flohmärkten unterwegs ist. „Ich habe so richtig Lust zu leben“, betont sie. Corona mache ihr nichts aus. Sie sehe in der Pandemie die Chance, das was man habe, schätzen zu lernen.
Die Ängste in uns
Wir alle, sagt Niegel, haben Ängste in uns, die jetzt mehr an die Oberfläche kommen. „Das heißt, dass die Menschen sich mehr damit auseinandersetzen müssen.“ Dieser Umstand spiegele sich darin, dass Zeitschriften zuhauf Psycho-Themen aufgriffen. Bedauerlich findet sie, dass suggeriert werde, dass „unser Leben nie mehr die bisherige Leichtigkeit haben wird“.
Noch bedauerlicher findet sie, dass andere wichtige Themen – als Beispiel nennt sie das Flüchtlingselend in Moria – durch die Pandemie ins mediale Abseits geraten. „Es wäre viel wichtiger, mehr Augenmerk auf die Mitmenschlichkeit zu richten!“