Amputationen, Schmerzen, ComebackSo kämpft sich Kölns Kultrocker zurück ins Leben
- Durch den Hit „Müngersdorfer Stadion“ gilt Jürgen Zeltinger als Erfinder des Kölschrock
- Bei einer OP im Krankenhaus ging etwas schief – der Musiker kämpfte um sein Leben
- Nach mehreren Zeh-Amputationen und 40 Kilo Gewichtsverlust macht er nun wieder Musik
Köln – Eine Gartensiedlung in Vogelsang, kleine Häuser mit gepflegten Vorgärten. Die Einbahnstraße ist so eng, dass die Müllabfuhr wohl nur mit Mühe durchkommt, Gehwege gibt es nicht. Jürgen Zeltinger lässt es sich nicht nehmen, den Besuch an der Pforte abzuholen. Hinter der Gittertür steht ein elektrischer Rollstuhl, weinrot lackiert wie eine Honda Gold Wing. „Das Ding ist super, da fahre ich mit zum Einkaufen“, sagt der Musiker, dem das Laufen sichtlich schwerfällt, und bittet in den Wintergarten. Schmal ist der Sänger geworden, 40 Kilo hat er verloren während seiner Krankheit.
Die Klamotten schlabbern unförmig an seinem Körper. „Ich hasse shoppen“, sagt er fast entschuldigend und trinkt einen Schluck zuckerfreier Cola, „aber passen tut mir auch nichts mehr.“
Jürgen Zeltinger: Kölschrocker ist 40 Kilo leichter
„Mir geht es beschissen“, sagt er, „die Knochen tun weh.“ „Dir geht es gut, Jürgen,“ widerspricht sein Gitarrist Dennis Kleimann. „Wenn du jetzt noch das alte Gewicht hättest, nach all den Amputationen, würde es dir viel schlechter gehen. Du hast keinen Zucker mehr, du kannst dich besser bewegen…“ „Ne, besser bewegen kann ich mich nicht.“ – „Doch, kannste dich. Nicht immer alles mies reden.“ – „Jetzt geht die Zänkerei los“, sagt Zeltinger und beide lachen. Käbbeln ist alltäglicher Spaß für sie.
Wenn die Wirbelsäule nicht mehr „so schön in Fett und Wasser eingepolstert“ wäre, sei das eben auch „unsagbar schmerzhaft“, sagt Zeltinger, der rund 20 Mal operiert worden ist. Bei Diabetikern gibt es oft Probleme mit der Durchblutung der Beine. Mittels eines Leistenkatheters werden daher die Gefäße erweitert. Bei dieser Erweiterung sei etwas gerissen, schildert Dennis Kleimann Zeltingers Kampf auf Leben und Tod, ein hoher Blutverlust sei die Folge gewesen. Nach akutem Nierenversagen konnte Zeltinger nur durch eine Bluttransfusion gerettet werden.
Hinzu kamen die nicht verheilen wollenden Wunden an den Fußzehen, auch eine Folge der Diabetes. Es musste amputiert werden. „Das fing an mit dem dicken Zeh, und dann wurde der wie Salami immer so scheibchenweise abgeschnitten. Das wuchs nicht zu, also noch ein Scheibchen, noch ein Scheibchen. Immer unter Vollnarkose.“ Sieben kleine Zehen hat er noch. „Sagen wir sechseinhalb“, sagt Zeltinger und lacht. Er ist erst einmal über den Berg, die Blutzuckerwerte sind normal, die Wundheilung geht voran. Er ernährt sich bewusst, „und eine kleine Sünde ab und zu wie ein Eis ist auch drin“.
Jürgen Zeltinger: Ohne Musik macht sein Leben keinen Sinn
Von der Musik will er auch nicht lassen, ohne die macht sein Leben keinen Sinn. In Grevenbroich im „Didis“ haben sie gerade ein kleines Konzert gespielt. Ein Musiker war kurzfristig ausgefallen, Dennis Kleimann sprang ein. Da er zuvor schon mit Zeltinger geprobt hatte für den Auftritt diese Woche im Kölner Piranha an der Kyffhäuserstraße (Freitag, 3. Juni 2022, 20 Uhr, Tickets 15 Euro) rief er „de Plaat“ an: „Jürgen, hätt’ste Lust, in zwei Stunden in Grevenbroich auf die Bühne zu gehen?“ Zeltinger hatte.
„Es war sensationell“, freut sich Kleimann über ein Publikum, das ja etwas ganz anderes erwartet hatte und dann auch unbekanntere Nummern mitsang. „Super Einstieg“, sagt Zeltinger. „Die Hälfte kannte mich vom Namen her, aber das war eine ganz andere Generation. Die wollten eigentlich Hip-Hop hören. Und die dann rüberzuholen, mit vier Zugaben, das war schon okay. Ich auf dem Barhocker, ein Gläschen Wein, Puffbeleuchtung – do deit nix mieh wieh.“
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Die Hochzeit des ersten Kölschrockers begann 1979. An Weiberfastnacht hatte die von Arno Steffen zusammengestellte Band im Kölner Nachtclub „Roxy“ ihren ersten Auftritt. Zeltingers-Plaat im Tigerbody und Kollegen kamen so gut an, dass in den verbleibenden Karnevalstagen 19 weitere Konzerte folgten. Im August 1979 erschien das von Conny Plank produzierte erste Album „De Plaat im Roxy & Bunker live“ mit dem Ramones-Cover „Müngersdorfer Stadion“, „Stüverhoff“ nach Lou Reed oder dem Volkslied „Mein Vater war ein Wandersmann“. Ein Jahr später folgte das Studio-Album „Schleimig“ mit der Single-Auskopplung „Asi mit Niwoh“.
Jürgen Zeltinger: Mit Boomtown Rats auf Tournee
Die Zeltinger Band ging mit den Boomtown Rats auf Deutschland-Tournee, Zeltinger wurde zur Legende. „Entstanden ist das aus einem Joke, aber es war sehr erfolgreich. So eine Sprache kannte man ja nicht auf deutschen Bühnen“, sagt er.
Heute sei die Musik viel kalkulierter. Trotzdem gebe es immer noch Publikum für handgemachte Musik. „Klar kann man einige neue Songs einbauen“, sagt Dennis Kleimann. „Aber in erster Linie wollen die die alten Songs hören.“ Sollen sie kriegen, denn „der Jürgen braucht die Musik. Wir haben am Geburtstag ein bisschen gejamt, und dann siehst du in seinem Gesicht die Sonne aufgehen.“
Touren wie früher ist nicht mehr drin. „Bis morgens in der Hotelbar die Puppen tanzen lassen und dir den Arsch vollsaufen? Letztendlich weißt du doch gar nicht, wofür. Ich bin froh, wenn ich abends im eigenen Bett liege“, sagt Zeltinger. Aber vier, fünf ausgewählte Konzerte wollen die beiden noch geben in diesem Jahr.
Jürgen Zeltinger: Spritzen in die Augen
Jürgen Zeltinger ist gehandicapt, er hört schlecht und seine Augen müssen regelmäßig gespritzt werden, „aber 73Jahre gehurt und gesoffen ist auch was Schönes.“ So alt ist er diese Tage geworden. Eine kleine Feier hat es gegeben mit Freunden, die erste seit mehr als drei Jahren. Bis zu dem Auftritt hatte er zwei Jahre keinen Alkohol getrunken. „Beim Geburtstag war ich dann etwas mutiger und habe ein Fläschchen Wodka beigetan. Ich bin ja Wein-Wodka-Genießer.“
Jürgen Zeltinger: Nüchtern hört er Howard Carpendale
Nüchtern kann er die eigene Musik nur bedingt ertragen. „Wenn der nüchtern ist, hört er Howard Carpendale und so einen Mist“, sagt Dennis Kleimann und grinst. Zeltinger, eines der letzten Kölner Originale. Direkt. Offen schwul. Kompromisslos. Der die tollsten Geschichten erzählen kann, aber auch vieles vergessen hat, alte Bekannte nicht mehr wiedererkennt. Ein harter Hund, der auch herzlich kann. Ein Charakterkopf, bei dem die Dramen des Lebens halsabwärts unübersehbare Spuren hinterlassen haben. Der Hilfe braucht von einem Freund wie Dennis Kleimann, der längst Teil der Zeltinger-Familie ist, obwohl er die zu Hause mit Frau und Tochter seit Jahren selber hat. „Unsere Kleine sagt Opa Jürgen zu ihrem Patenonkel.“