Der Karneval ist ein Fest gegen die Spaltung, findet der Kölner Psychologe Stephan Grünewald. Der schunkelnde Jeck ist das Gegenbild zum menschenfeindlichen Attentäter.
Karneval feiert ZusammenhaltWarum „Jecksein“ eine Geisteshaltung ist
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Warum der schunkelnde Jeck das Gegenbild zum menschenfeindlichen Attentäter ist. (Symbolbild)
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„Un steiht die Welt och Kopp, mir sin nit för Traurigkeit jemaat“, singt die Band Planschemalöör in diesem Jahr in ihrem Sessionshit „Dat Jeföhl“. Mit offenem Herzen und erhobenem Kopf soll man durch die Welt laufen. „Auch wenn du dich verloren fühlst, gehst du nicht verloren“, geht es sinngemäß weiter. „Am Engk weed alles joot! Mir han die Hoffnung in dr DNA.“
Die Band trifft das Gefühl der Jecken in einer scheinbar durchdrehenden Welt gut. Es wird gefeiert, während anderswo Krieg und Elend herrschen und es doch eigentlich im Moment eher wenig gibt, dass Hoffnung auf nachhaltige Besserung gibt. Geht das überhaupt? „Natürlich“, sagt der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald, den man stets zu Rate ziehen kann, wenn Köln, die Kölnerinnen und Kölner mal auf die Couch gelegt werden müssen. „Im Karneval kommt man mal raus aus der Ohnmacht, man verwandelt sich und erlebt das Gefühl von Selbstwirksamkeit.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen Karneval und rauschhaften Exzessen“
Ohne Kraftquellen kann der Mensch keine Herausforderungen angehen, ohne Ablenkung das Leid nicht ertragen. Grünewalds Forschungsinstitut „Rheingold“ macht regelmäßig „Tiefeninterviews“ zur Lage der Nation. Als Reaktion auf die vielen Krisen und Sorgen würden sich viele in ein Schneckenhaus zurückziehen oder in eine „besinnungslose Betriebsamkeit“ stürzten, sagt der Wissenschaftler. „Das ist aber fatal für das soziale Miteinander.“
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Im Karneval kann man eine Verbindung zu anderen spüren. Das ist das heilsame Rezept gegen die Verzweiflung: „Der Jeck erlebt Vergemeinschaftung. Man kommt aus der Isolation heraus und spürt Sinnlichkeit.“ Wenn man sich ständig mit Problemen beschäftigt, die man eigentlich gar nicht beeinflussen kann, sei das weder sinnlich noch gesund.
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Stephan Grünewald ist Gründer und Leiter des Rheingold Instituts
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Dabei geht es nicht um Betäubung oder ignorante Verdrängung. Das jecke Treiben ist nicht das, was viele von außen attestieren. „Es gibt einen Unterschied zwischen Karneval und rauschhaften Exzessen“, sagt Grünewald. „Karneval hat nichts mit sinnlosen Besäufnissen oder einem Sex-Freifahrtschein zu tun.“ Es gehe vielmehr darum, die Verwandlung und das friedliche Zusammenkommen zu zelebrieren.
Deshalb gibt es auch Regeln und Rituale für das nur scheinbar Ungeordnete. „Der Karneval braucht einen zivilisierten Rahmen – und die Gewissheit, dass man nach sechs Tagen außerhalb der Spur wieder spurt.“ Es geht nicht darum, die Bodenhaftung zu verlieren. Im Gegenteil: „Mit dem Jecksein verbindet sich das demütige Eingeständnis: Wir sind alle irrend und suchend. Wir sind alle kleine Sünderlein! Wenn wir alle perfekt wären, bräuchten wir den anderen nicht. Indem wir uns eingestehen, dass wir ein jeck und ein bisschen verrückt sind, bauen wir eine Brücke zu Nächsten.“
„Wir müssen im Gespräch bleiben“
Jetzt nach der Bundestagswahl sowie vor dem Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen in der Welt und den schlimmen Attentaten in Deutschland der vergangenen Wochen bekommt das Feiern der Gemeinschaft eine zusätzliche, durchaus politische Dimension. Die Befragungen hätten gezeigt, dass zu der Angst vor der Ohnmacht die Furcht vor dem „sozialen Klimawandel“ gekommen sei, so Grünewald.
„Die Menschen merken, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet und die Spaltung immer größer wird.“ Die Reaktion darauf sei, Bollwerke zu bilden und sich von Leuten abzugrenzen, die eine andere Meinung haben. „Das ist natürlich Gift für die Demokratie.“ Der Karneval könne diese Wagenburgmentalität aufbrechen. „Diese ungeheure verbindende Kraft in Zeiten, wo alles auseinanderfliegt, ist wohltuend. Wir müssen im Gespräch bleiben. Im Karneval merken die Menschen, dass sie gesehen und einbezogen werden.“
Der Köln-Experte und Autor geht noch einen Schritt weiter: „Der schunkelnde Karnevalist ist das Gegenbild zum Krieg führenden Soldaten und Attentäter.“ Anschläge wie der auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt oder die Verdi-Demo in München hätten auch deshalb eine so enorme Symbolkraft, weil sie auf wichtige Räume des gesellschaftlichen Lebens gezielt haben. Der Weihnachtsmarkt stehe für ein harmonisches Zusammenrücken in der kalten Jahreszeit, ein Demonstrationszug für kollektive Stärke. „Diese Spielräume sind angegriffen worden.“ Der Karneval zeige trotzig, dass diese Spielräume geschützt und gestärkt werden müssen.
„Jecksein“ ist in Köln eine Geisteshaltung
Was Planschemalöör und die vielen anderen kölschen Liedtexter meinen, wenn sie das Veedel, den Stammbaum und die Kraft des Miteinanders beschwören, kann man einem Außenstehenden nur schwer beschreiben. Man muss es fühlen – untergehakt und singend in einer Kneipe oder am Zugweg. Dann versteht man, dass dieses Heimat- und Gemeinschaftsgefühl niemanden ausschließt, und dass das „Jecksein“ eine Geisteshaltung ist.
Auch wenn die Kölschen gerne davon singen, wie schön doch alles „fröher en Colonia“ war, hoffen sie doch auf die Zukunft: Mit dem Feiern der Gemeinschaft lässt sich ein mutmachendes Gegenbild, vielleicht sogar eine politische Utopie verbinden. Grünewald formuliert es ganz pragmatisch so: „Es ist ja zurzeit viel davon die Rede, dass sich das Land verwandeln muss. Nehmen wir den Karneval als Probe für die Frage: Bekommen wir das hin?“