Ab Donnerstag herrscht Ausnahmezustand in Köln. Der Karneval an sich und auch seine eruptivste Form, der Straßenkarneval ab Weiberfastnacht, zählte allerdings lange zu den bestorganisierten Ausnahmezuständen der Welt.
Auch wenn sonst wenig funktionierte – der Rosenmontagszug, die Schull- und Veedelszöch, die unzähligen Umzüge in den Stadtteilen liefen verlässlich, nach bestem Ermessen gesichert und stets mit ausreichend Kamelle versorgt. Selbst ein mächtiges Sturmtief wie vor zwei Jahren brachte die Planungen nicht ins Wanken. Der Kölner Karneval zählt nicht nur zum Weltkulturerbe, er ist schlicht: ein Erfolgsmodell.
Köln wurde zum Topziel für Feiernde
Und er ist ein Opfer seines Erfolgs. Denn dass sich hier eine sechs Tage währende Riesenparty abspielt, war schon in der vordigitalen Zeit nicht wirklich geheim zu halten. Seit aber die Fotos von Sitzungen und Bällen, von den Zügen und aus den Kneipen als Beweise purer Lebensfreude weltweit in Echtzeit zu besichtigen sind, ist Köln während der Session zum Topziel geworden. Immer drängender aber stellt sich den vielen Gästen die Frage: Wo soll man hin?
Und immer mehr Besucher beantworten diese Frage mangels Alternativen mit einem schlichten: auf die Straße. Den Trend gibt es schon länger, doch schon die Eröffnung dieser Session am 11.11. hat gezeigt, dass der Boom noch lange kein Ende hat.
Die Kehrseite der Medaille: Die negativen Begleiterscheinungen sind ungeschützt sichtbar, die Bilder von schwerstbetrunkenen, sich übergebenden, ungehemmt selbst an den Dom urinierenden Besuchern gehen um die Welt – und verderben manchem Kölner oder Herzenskölner die Freude am Karneval nachhaltig.
Kopierter Karneval verkommt schlicht zum Besäufnis
Dabei steht der Karneval auch jenseits der großen Umzüge so gut da wie noch nie. Karnevalsflucht aus Überzeugung ist ein Ausnahmetatbestand geworden, Sitzungen – egal, ob Prunksitzung in Abendkleid und Smoking, vollkostümiert zur Stunksitzung oder mit Pittermännchen und Kühltasche zur Lachenden Kölnarena – sind weitgehend ausverkauft.
Und wer ab Donnerstag in seine Lieblingskneipe will, tut gut daran, sich ein paar Stunden vor Öffnung der Türen anzustellen. Ob Traditionskorps, Alternativ-Karnevalisten oder neue Zusammenschlüsse wie „Loss mer singe“: alle können (weitgehend) mit allen, frühere Feindbilder sind so gut wie verschwunden.
Doch das Erfolgsmodell wird ungehemmt kopiert und rund ums Jahr ausgeweitet. Leider ist die Botschaft, die von Events wie „Jeck im Sunnesching“ ausgeht: Karneval, das kann man überall, zu jeder Zeit und an jedem Ort haben. Wenn aber jeglicher Bezug zum eigentlichen Anlass fehlt, reicht es eben allzu oft nur für ein schlichtes Besäufnis. Die weisen Urgesteine des Kölner Karnevals, die Bläck Fööss, haben das schon vor Jahren vorausgeahnt und bleiben seitdem Ballermann-lastigen Veranstaltungen wie auf dem Alter Markt konsequent fern.
Auch im Karneval gelten Regeln
Doch lässt sich der Trend noch stoppen? Man muss möglichst viele Angebote machen, haben die Experten herausgefunden. Noch mehr Bühnen, noch mehr Toiletten – ob das wirklich hilft, wird rund um die Zülpicher Straße zu beobachten sein. Wer allerdings wie mancher Karnevalstourist der Meinung ist, dass die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens in Köln von Donnerstag bis Dienstag komplett aufgehoben sind, der ist eben nur noch mit empfindlichen Strafen zu erreichen.
Man muss nicht in Köln geboren sein, um von Herzen Karneval zu feiern – jeder Mensch kann Karneval. Und wer bereit ist, sich dem Fest mit seinen Liedern und Traditionen, aber auch mit seinen Regeln und Ritualen unvoreingenommen zu öffnen, der hat in diesem Jahr von Donnerstag bis Dienstag wieder die Chance, etwas Größeres zu erleben als einen Dauervollrausch in der Altstadt: nicht weniger als eines der großartigsten Feste der Welt.