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Etikett statt gleiche ChancenJedes neunte Kölner Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf

Lesezeit 4 Minuten
Grundschüler in einer Klasse

In den Kölner Grundschulen wird inzwischen neun Prozent der Kinder sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert.

Ein Gutachten des NRW-Schulministeriums zeigt, was sich dringend an dem Verfahren und in den Schulen ändern muss.

Die Zahl der Schulkinder in Nordrhein-Westfalen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wächst stetig. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre erhöhte sich die Zahl der betroffenen Kinder um etwa 20 Prozent auf 158.000. Damit stieg dieser Anteil der Schülerinnen und Schüler in NRW von 4,7 auf 6,4 Prozent und ist damit so hoch wie nie. Tendenz weiter steigend. In Köln sind die Zahlen sogar noch höher:

Hier wird inzwischen neun Prozent aller Kölner Schülerinnen und Schüler in Primar- bis Mittelstufe sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt und damit eine Lernbehinderung. Der Anstieg ist hier noch signifikanter als landesweit, da betrachtet auf die letzten acht Jahre der Anteil der Förderschüler sogar um knapp 50 Prozent gewachsen ist.

Wissenschaftliches Gutachten belegt Fehlanreize im System

Für die betroffenen Kinder bedeutet dies zum einen, dass es immer schwieriger wird, einen geeigneten Schulplatz zu finden. Inklusionsplätze im Gemeinsamen Lernen sind vor allem an Gesamtschulen knapp und auch die Kölner Förderschulen platzen aus allen Nähten. Es bedeutet aber auch, dass die betroffenen Kinder, denen als Erstklässler nach einem sogenannten Feststellungsverfahren per Gutachten ein solcher Förderbedarf attestiert wird, ihre ganze Schullaufbahn und darüber hinaus mit dem Label „Behinderung“ durchs Leben gehen.

Das nordrhein-westfälische Schulministerium hat angesichts dieser problematischen Entwicklung ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben. Ziel war es, das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu überprüfen. Das Gutachten liegt nun vor und bestätigt das sogenannte Etikettierungs-Dilemma durch Fehlanreize: Wenn Schulen mehr diagnostizierte Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf melden, dann erhalten sie nämlich mehr sonderpädagogisches Personal für ihre Schule, um die Kinder zu fördern.

In einer Lage akuten Personalmangels in den Schulen kann so die knappe Ressource über das Ausmaß der festgestellten Förderbedarfe erhöht werden. Gleichzeitig sei aber nicht eindeutig nachzuweisen, dass diese Gutachterpraxis den betroffenen Schülerinnen und Schülern wirklich zu einer besseren Förderung verhelfe.

Das Feststellungsverfahren entspricht nicht den Anforderungen einer hochwertigen, pädagogischen Unterstützung.
Experten im Gutachten für das NRW-Schulministerium

Nach Ansicht der Experten muss das Verfahren dringend grundlegend reformiert werden. Zwar müssten all diese Kinder im Lernen unterstützt werden, aber es dürfe eben nicht systemisch mit „Etikettierungs- und Benachteiligungsrisiken“ einhergehen. Derzeit würden nicht nur nahezu alle Gutachten, die die Lehrkräfte erstellen, durch die entsprechende Schulaufsicht positiv beschieden. Es fehlten auch genaue und einheitliche Verfahrensvorgaben. Die exemplarisch untersuchten Gutachten seien in Qualität und im Detailgrad sehr unterschiedlich und unstandardisiert - somit sehr anfällig für Urteilsfehler.

Das Fazit der Experten ist eindeutig: „Derzeit entspricht das Feststellungsverfahren nicht den Anforderungen einer hochwertigen, pädagogischen Unterstützung“. Es fördere vielmehr „systemisch Exklusion und Etikettierung statt Chancengerechtigkeit“.

Stattdessen müsse der Fokus hin auf die Prävention gerichtet werden: Dem Antrag für ein solches Feststellungsverfahren müssten eine entwicklungsorientierte Diagnostik und intensive Maßnahmen der individuellen Förderung vorausgehen. Jedes Kind brauche einen Förderplan und viel mehr Durchlässigkeit. Es dürfe nicht gelten: einmal Inklusionskind, immer Inklusionskind. Vielmehr müsse der Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung mindestens einmal im Jahr überprüft und eben nicht über ein Jahr hinaus festgeschrieben werden können. Das sei auch international so üblich.

Experten fordern: Weg von der Etikettierung der Kinder

Durch mehr Standardisierung sollen künftig Interpretationsspielräume von Lehrkräften reduziert werden. Gleichzeitig empfehlen die Gutachter neben einer regionalen Expertisestelle, die die Prozesse künftig steuern soll, auch einen generellen Paradigmenwechsel: Weg von der Etikettierung der Kinder, hin zu mehr Prävention und individueller Förderung aller Schülerinnen und Schüler durch eine verlässliche Diagnostik und Unterstützung, die nicht an einen bestimmten Status gekoppelt ist. Allgemeine Schulen müssten die Förderung aller Schülerinnen und Schüler als ihren Auftrag begreifen und nicht als eine zu delegierende sonderpädagogische Aufgabe verstehen.

Die Gutachter sehen aber, dass die Schulen zu diesem Mittel greifen, weil sie überlastet sind. Daher empfehlen sie die Kopplung von sonderpädagogischem Bedarf an mehr Personal aufzugeben und stattdessen etwa nach dem Kriterium Sozialindex den Schulen mehr Unterstützung und Personal anzubieten. Außerdem empfehlen die Experten mehr vorschulische Prävention in Kitas, etwa durch Sprachförderung und Schulung der sogenannten Basiskompetenzen. Screenings sollten jeweils schon frühzeitig noch in der Kita die sozialen, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten der Kinder erfassen, um schon im Vorfeld der Einschulung besser zu fördern.

Schulministerin Dorothee Feller (CDU) bezeichnete die Handlungsempfehlungen der Wissenschaftler als „wichtige Grundlage, um die Qualität und Effizienz des Verfahrens zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu verbessern“. Das Schulministerium werde das Verfahren nun auf dieser Grundlage weiterentwickeln.