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Kölner Kita-Leiter spricht über Geiselnahme„Ich sollte mit ihm in den Tod gehen“

Lesezeit 10 Minuten
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Mit einer Spitzhacke und einer Machete stürmte das SEK das Büro der Kita, in dem der Täter sein Opfer festgehalten hatte.

  1. Im April 2013 wurde Ulrik W., damals Leiter einer Kita in Chorweiler, von einem Geiselnehmer in seine Gewalt gebracht.
  2. Heute spricht er erstmals öffentlich darüber, wie er die bange Zeit erlebt hat, wie er gerettet wurde – und wie es sich anfühlt, zehn Stunden ein Messer am Hals zu spüren.

KölnUlrik W. kommt zu Fuß zum Gesprächstermin mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Er hat es nicht weit, er wohnt ganz in der Nähe des Redaktionsgebäudes. Vor ein paar Tagen hat W. in seiner Zeitung eine Reportage über die Arbeit der Verhandlungsgruppe des SEK gelesen. Darin ging es auch um die Geiselnahme in der Kita in Chorweiler im April 2013 – seiner Kita.

W. war damals der Leiter. Zehn Stunden verbrachte er in der Gewalt des bewaffneten Täters, bis ein Spezialeinsatzkommando die Kita um 19 Uhr stürmte, den Täter überwältigte und W. festnahm. Der Geiselnehmer wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Seit April dieses Jahres ist er wieder frei.

Ulrik W. nimmt am Tisch Platz und bittet um ein Glas Wasser. Die Geschichte über das SEK im „Kölner Stadt-Anzeiger“ habe etwas in ihm ausgelöst, sagt er, einen Impuls freigesetzt, den er schon länger gespürt habe: Er will reden. Erzählen, wie es ihm als Geisel ergangen ist, wie es war, zehn Stunden lang ein Messer an der Kehle zu spüren – und wie er heute auf die schlimmsten Stunden seines Lebens zurückblickt.

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Der 5. April 2013 war ein Freitag, der letzte Tag vor den Osterferien. Ich war um halb acht im Kindergarten. Flurdienst. Das heißt: Ich stand an der Eingangstür und begrüßte Kinder und Eltern, gleichzeitig achtete ich darauf, dass kein Fremder die Kita betritt. Gegen zehn vor neun kam ein Herr, den ich noch nie gesehen hatte. Er sagte, er wolle seine Kinder anmelden. Ich bat ihn ins Büro. Als ich mich zum Schrank umdrehte, streifte er sich Handschuhe über und zog sich eine Skimaske vors Gesicht. Dann stand er mit einem Küchenmesser vor mir. 20 Zentimeter lang. Er sagte: „Ich muss jetzt was Unangenehmes mit ihnen machen.“

Ich war völlig überrumpelt. Mein erster Gedanke war: Ein Mann mit einem Messer in meinem Kindergarten – das geht gar nicht. Ich versuchte spontan, ihm das Ding abzunehmen. Ich wollte seine Hände greifen und ihn von mir wegdrehen. Das habe ich auch geschafft, konnte ihn aber nicht zu Boden werfen. Immer wieder stach er zwischen seinen Beinen hindurch nach hinten und erwischte mich zweimal: am Oberschenkel und am Rücken. Ich sackte zusammen, rief: „Raus hier, ein Überfall!“ Die Erzieherinnen flüchteten mit den Kindern nach draußen. Die Polizei kam, Streifenbeamte forderten den Mann auf, die Hände hochzuheben, das Messer abzulegen und rauszukommen. Aber das tat er nicht.

Zehn Stunden im Halbdunkeln

Ich sollte die Rollladen runterlassen. Von da an saßen wir im Halbdunkeln. Nur durch die geöffnete Tür schien Licht hinein. Er lehnte einen Bilderrahmen gegen einen Stuhl, so dass er dadurch in den Flur gucken konnte um zu sehen, was da vor sich ging. Wir beide wussten, dass dort die Polizei war. Man hörte das.

Ich sollte mich unter den Schreibtisch setzen, und er ging hinter mir in Deckung. Die Wunde an meinem Oberschenkel blutete stark. Auf dem Boden wurde es dem Mann bald zu unbequem, er setzte sich auf meinen Bürostuhl. Ich musste mich auf einen Besucherstuhl direkt vor ihn setzen. Von hinten hielt er mir das Messer an die Kehle. Alle paar Minuten, wenn sein Arm lahm wurde, wechselte er die Hand.

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Er schnitt den Gurt meiner Tasche ab, den sollte ich um das Bein knoten, um die Blutung zu stoppen. Ich ließ mir aus meiner Tasche meine Flasche Wasser geben. Ich dachte, wenn ich jetzt so viel Blut verliere und nichts trinke, geht mein Kreislauf runter. Als ich ein paar Momente später realisiert hatte, dass ich eine Geisel bin, sagte ich mir: Du bist Leiter dieser Kita, und jetzt guckst du, dass du das einigermaßen vernünftig zu Ende führst.

Irgendwann legte er die Hand mit dem Messer auf meiner Schulter ab, und das hat er dann eigentlich bis zum Abend so gemacht. Zehn Stunden lang. Von 9 bis 19 Uhr. Wir saßen die ganze Zeit in dieser Position. Er hinter mir, ich konnte ihn nicht sehen. Manchmal verkrampfte seine Hand ein wenig, und ich dachte: Wenn der mir jetzt aus Versehen in den Hals schneidet…

Der Täter forderte Geld und einen Fluchtwagen

Wir haben nicht viel geredet. Es gab nicht viel zu reden. Ich bot ihm die 80 Euro aus der Handvorschusskasse an. Die ist für Porto und so etwas gedacht. Aber die wollte er nicht. Er drohte mir mit einem „Team B“, das noch schlimmere Sachen machen würde. Da dachte ich an meine Familie. Meine Tochter wohnte in Koblenz. Sie las gegen 10 Uhr im Internet die Eilmeldung: „Kita-Leiter in Kölner Kindergarten als Geisel genommen.“ Sie rief meine Frau an, die rief bei der Polizei an, und die bestätigten ihr: „Ja, das stimmt.“ Sie schickten zwei Beamte zu ihr, die auf sie aufpassten. Daraufhin kam meine Tochter mit ihrem Freund nach Köln.

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Mit einer Trage bringen Rettungskräfte den Täter nach dem Zugriff in einen Rettungswagen.

Ich fragte den Täter, ob er es auf mich persönlich abgesehen hat. Er sagte: „Nein.“ Ich fragte, wie lange er die Tat vorbereitet hätte. Er sagte: „Zwei oder drei Monate.“ Ich fand aber, er hatte alles denkbar schlecht vorbereitet. Er war offenbar davon ausgegangen, dass bei uns nur Frauen arbeiteten. Er hatte es bestimmt auf eine Frau als Geisel abgesehen, oder auf Kinder. Und das hatte ich ihm versaut.

Wir hatten kein Smartphone, kein Radio, keinen Fernseher. Unsere einzige Informationsquelle war das Telefon. In den zehn Stunden gab es ungefähr 30 Telefonate mit der Verhandlungsgruppe des SEK. Der Täter stellte mehrere Ultimaten. Er wollte einen Fluchtwagen mit Fahrerin. Und Geld. Zuerst 300.000 Euro, später viel mehr. Er wollte, dass meine Frau den Fluchtwagen fährt, aber ich sagte zu ihm: Auf keinen Fall, ich ziehe da meine Familie nicht mit rein. Von dem Gedanken kam er dann auch ab.

„Ich hatte Todesangst“

Mehrfach sagte er, dass ich mit ihm in den Tod gehen würde. Dass ich das Ganze nicht überleben würde. Ich hatte Todesangst. Aber wie soll ich das sagen? Irgendwie gewöhnt man sich mit der Zeit auch an dieses unsichere Gefühl. Ich dachte darüber nach, was ich vererben kann. Wem ich gerne noch kurz etwas gesagt hätte. Aber die meiste Zeit überlegte ich, wie ich das hier beeinflussen kann.

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Der Geiselnehmer stand im November 2013 vor Gericht.

Würde ich an dem Messer ziehen, könnte ich mich schwer verletzen. Alle zehn oder 15 Minuten, wenn er das Messer in die andere Hand nahm, war mein Hals kurz frei. Dann gehen einem viele Sachen durch den Kopf: Trägt mein Bein mich, wenn ich aufstehe? Oder stolpere ich raus in den Flur? Den Jungs vom SEK entgegen? Dass die da standen, fand ich nicht schlecht. Aber was, wenn der Täter mir hinterhersticht? In Gedanken ging ich meinen Rücken runter: Lunge, Niere, Leber. Was passiert, je nachdem wo er reinsticht?

Er merkte, dass ich langsam nervös wurde und band mir meine Arme fest auf dem Rücken zusammen, mit meinem Ledergürtel. Mir war klar, dass die Polizei am ehesten über Gespräche mit ihm etwas erreichen konnte. Wenn er auf diese Weise aufgeben würde, wäre das die sicherste Lösung für mich. Aber ihm fehlte völlig die Einsicht, dass er gescheitert war.

Scherenstiche in den Rücken

Eine Bekannte von mir rief im Büro an, sie war über 80 Jahre alt. Der Täter ließ mich mit ihr sprechen. Ihre Freunde auf Gran Canaria hatten sich Sorgen gemacht, weil sie die Geiselnahme im Frühstücksfernsehen gesehen hatten. Meine Bekannte wollte wissen, ob ich das bin. Ich sagte: Ja, das sei schon bei mir im Kindergarten. Mit Einzelheiten hielt ich mich zurück. Sollte ich der Frau sagen, dass er mir gerade mit dem Messer an die Kehle hält? Ich versprach ihr, sie am Abend zurückzurufen.

Im Büro spitzte sich die Situation zu. Nach jedem Telefonat mit dem SEK war der Täter aufgebrachter. Er wurde immer unruhiger und aggressiver. Er wollte Druck ausüben, wollte das Geld haben. Er legte mir das Kabel von einem Aktenvernichter wie eine Schlinge um meinen Hals, zog das Messer hindurch, mit der scharfen Klinge an meiner Kehle, nach dem Motto: Wenn die reinkommen und mich wegziehen, schneidet mir das Messer in den Hals. Ich sagte ihm, dass ich dem SEK das mitteilen muss, damit die nicht versuchen, mich zu befreien. Damit war er einverstanden. Ich wollte natürlich, dass die so gut vorbereitet sind wie möglich.

Gegen 19 Uhr gab es ein erneutes Telefonat mit der Verhandlungsgruppe. Währenddessen nahm er plötzlich meine Papierschere und rammte sie mir zwölf oder 13-Mal in den Rücken. Nicht besonders tief, aber ich wusste ja nicht, was noch passiert. Das SEK hörte meine Schreie und löste den Zugriff aus. Sie lenkten ihn ab, von außen schlugen SEK-Beamte die Rollläden und das Bürofenster ein, Blendgranaten knallten, es war laut und hektisch. Ein Beamter schoss ihm in die Schulter.

„Ich wollte keine Tabletten“

Die Polizisten überwältigten ihn und kümmerten sich dann um mich, schnitten mir die Klamotten vom Leib, bis auf die Unterhose, um die Wunden zu versorgen. Im Rettungswagen habe ich gesagt, in welches Krankenhaus ich möchte. Ich ahnte, dass vor den großen Kliniken, der Uniklinik und in Merheim, die Presse steht. Also wollte ich ins St. Vinzenz in Nippes. Unterwegs rief ich meine Frau an. Ich sagte ihr, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht und in welches Krankenhaus wir fahren. Die Sanitäter wollten mir Schmerzmittel geben. Aber ich wollte keine Tabletten. Ich wollte klar bleiben. Ich konnte niemandem mehr vertrauen.

Nach der Tat wurde ich lange therapeutisch versorgt. Ich wollte direkt wieder anfangen zu arbeiten, wollte meinen Alltag zurück, mein Leben. Nach der Geiselnahme wurde die Kita eine Woche lang renoviert. Danach haben wir wieder geöffnet und alles gekauft, was wir an Polizei- und Feuerwehrspielzeug bekommen konnten, damit die Kinder ihre Erlebnisse spielerisch aufarbeiten können. Das hat die Kinder gefreut. Dass sie mich nach der Tat wieder in der Kita gesehen haben, hat ihnen bestimmt geholfen. Keine Familie hat ihre Kinder von der Kita abgemeldet.

Begegnung im Gerichtssaal

Im Gerichtsprozess ein knappes halbes Jahr später bin ich dem Täter zum ersten Mal wieder begegnet. Ich war als Nebenkläger jeden Tag da und habe ihn die ganze Zeit angeschaut. Er hat ständig unter den Tisch geguckt. Er sprach im Gerichtssaal nur türkisch, obwohl ich ja wusste, dass er ganz gut Deutsch kann.

Als seine Telefonate mit der Verhandlungsgruppe abgespielt wurden, bin ich rausgegangen. Das konnte ich mir nicht anhören, das war zu viel. Auf die Frage des Gerichts, warum er sich ausgerechnet meine Kita ausgesucht hätte, antwortete er, das hätte ihm der Teufel eingegeben.

Erzählungen von der Tat helfen bei der Verarbeitung

Seine Entschuldigung, die er über seinen Dolmetscher ausrichten ließ, habe ich nicht angenommen. Er hatte sie damit begründet, dass ihm seine Schulter wehtun würde, so lange ich ihm nicht verzeihe. Ihm ging es nur um sich. Heute ist er frei, und ich habe noch eine Schmerzensgeldrechnung mit ihm offen. Anfangs spürte ich nur Wut. In den letzten Jahren habe ich viel über ihn nachgedacht. Wie man so etwas tun kann, mit so einer Kälte. Der Richter sprach in seiner Urteilsbegründung vollkommen zu Recht von Folter.

Ein paar Jahre habe ich noch in der Kita gearbeitet, inzwischen bin ich in einem anderen Bereich bei der Stadt tätig. Bis heute habe ich die ganze Geschichte emotional noch nicht richtig aufgearbeitet. Mir hilft, wenn ich erzählen kann, was ich erlebt habe. Dass die Leute mal erfahren, was man als Opfer mitmacht.

Wenn ich heute SEK-Einsätze im Fernsehen sehe, muss ich oft lächeln, weil die in der Realität viel geplanter und strukturierter ablaufen. Einige Einsatzkräfte von damals habe ich später nochmal getroffen, auch um mich zu bedanken. Die hatten genau gewusst, was sie taten und warum sie es taten. Ich habe noch nie eine so gute Arbeit gesehen wie die vom SEK an diesem Tag.