Nach dem Anschlag in Solingen überschlägt sich die Politik mit Maßnahmenkatalogen und Forderungen. Doch was hilft wirklich gegen Messergewalt?
Anstieg um ein DrittelMessergewalt nimmt auch in Köln zu – was Experten jetzt fordern
Messerverbotszonen, Videoüberwachung oder Führerscheinentzug für Gewalttäter – rund zwei Wochen liegt der islamistische Terroranschlag von Solingen zurück, bei dem drei Menschen getötet wurden. Und während die Menschen in Solingen noch trauern, hat sich die politische Debatte darüber, was nun zu tun ist, verselbstständigt. Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene überbieten sich Politikerinnen und Politiker mit Schuldzuweisungen, Forderungen und Maßnahmenkatalogen. Neben der Debatte um Migration geht es dabei auch um das Thema Messergewalt. Doch welche Maßnahmen halten Experten wirklich für sinnvoll? Und wie ist die Situation in Köln? Ein Überblick.
Wie viele Messerangriffe gibt es in Köln?
Im vergangenen Jahr gab es nach Angaben der Kölner Polizei 344 Messerdelikte im öffentlichen Raum. Die Zahlen beziehen sich auf das gesamte Polizeipräsidium, umfassen also neben Köln auch Leverkusen. 2022 waren es noch 258, das bedeutet ein Anstieg um 33 Prozent. Zu den Messerdelikten gehören sowohl Körperverletzungsdelikte als auch Raub, bei dem Opfer mit einem Messer bedroht wurden. Damit bestätigt sich in Köln und Leverkusen ein Trend, der auch auf Landesebene zu beobachten ist, auch wenn er in Polizeipräsidium Köln nicht ganz so drastisch ausfällt. In Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Messerdelikte zuletzt um 43 Prozent gestiegen.
Allerdings: Im Jahr 2019, also vor Ausbruch der Corona-Pandemie, lag die Zahl der Messerdelikte in Köln mit 364 noch höher als im Vorjahr. Der Anstieg der Messergewalt im vergangenen Jahr dürfte also zumindest teilweise auf das Ende der Corona-Beschränkungen zurückzuführen sein. In den Jahren 2021 und 2022 ging die Kriminalität in fast allen Bereichen zurück – und stieg danach teils rapide wieder an.
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Der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger liegt konstant bei etwa 50 Prozent, so eine Sprecherin der Polizei. Damit sind ausländische Tatverdächtige in der Statistik deutlich überrepräsentiert. In Köln hatten 2023 20,9 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner keinen deutschen Pass.
Die Statistik könne nur einen Teil der Realität abbilden, warnt Kriminologe Dirk Baier, er forscht an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu Messergewalt. Neben dem Corona-Effekt hätte die Statistik zwei weitere Nachteile: „Zum einen wird die Statistik zu Messergewalt erst seit 2021 bundesweit einheitlich erhoben. Zum anderen handelt es sich um eine sogenannte Hellfeldstatistik. Das heißt, wir müssen uns immer als Erstes fragen: Hat sich möglicherweise die Anzeigenbereitschaft verändert? Etwa weil wir sensibilisierter oder aufmerksamer geworden sind, was Messerattacken angeht?“ Trotzdem seien die Zahlen der Polizei ein wichtiger Indikator. „Deswegen finde ich es richtig, über das Thema zu diskutieren und das Problem anzugehen.“
Warum steigen die Zahlen?
Neben dem Ende der Corona-Beschränkungen vermutet Baier zwei weitere Faktoren hinter dem Anstieg der Messergewalt: „Dass mehr Menschen ein Messer bei sich tragen, hat möglicherweise mit einem gestiegenen Unsicherheitsgefühl zu tun.“ Zum anderen könnte zunehmende soziale Ungleichheit für den Anstieg mitverantwortlich sein, so Baier. „Das sind aber nur Vermutungen, empirisch lässt sich diese Frage noch nicht beantworten.“
Oliver Huth, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in Nordrhein-Westfalen, sieht ein verdrehtes Männlichkeitsideal als Ursache: „Viele der jungen männlichen Täter haben Sozialisationsdefizite, die sie mit dem Messer auszugleichen versuchen.“ Dass ein überproportionaler Anteil der Täter Ausländer sind, hänge auch mit „tradierten patriarchalischen Normen- und Wertesystemen“ zusammen, so Huth.
Welche Maßnahmen gegen Messergewalt sind sinnvoll?
„Wir müssen uns den Tätergruppen junge Männer und Ausländer widmen“, fordert Huth. Die Präventionsarbeit in Geflüchtetenunterkünften zu stärken, wie Innenminister Herbert Reul (CDU) es in seinem Zehn-Punkte-Plan gegen Messergewalt angekündigt hat, findet Huth deswegen richtig.
Der Kriminologe Baier stimmt dem Ansatz, die Tätergruppen genauer zu betrachten, grundsätzlich zu, warnt aber vor einer Stigmatisierung von Geflüchteten: „Messergewalt ist nicht eins zu eins mit einer ethnischen Gruppe verbunden. Der größte Teil der Geflüchteten hat mit Kriminalität nichts zu tun.“ Kriminologisch sei Nationalität „ein uninteressantes Merkmal. Wenn wir verstehen wollen, warum Nicht-deutsche in der Statistik überrepräsentiert sind, dann müssen wir uns die sozialen Faktoren und die Lebenssituation anschauen, die Menschen dazu bringen, kriminell zu werden.“
Einig sind sich Huth und Baier dabei, dass Waffenverbotszonen, wie es sie auch in Köln gibt, helfen könnten, Messergewalt einzudämmen. „Entscheidend ist, dass Verbotszonen es der Polizei ermöglichen, deutlich niedrigschwelliger als zuvor Kontrollen durchzuführen“, sagt Huth. Er begrüßt den Plan der Bundesregierung, künftig auch Bahnhöfe und Züge zu Messerverbotszonen zu erklären. Baier fügt hinzu: „Wir wissen aus kriminologischen Studien aus anderen Deliktbereichen, dass verstärkte Kontrollen einen Effekt haben – solange die Polizei das Verbot auch kontrolliert.“
In Köln kontrollierte die Polizei in diesem Jahr bis Juli rund 6000 Personen in den drei Waffenverbotszonen auf den Ringen, dem Zülpicher Platz und dem Wiener Platz, so eine Sprecherin. Dabei fanden die Beamten rund 50 Messer.
Diese Maßnahmen sehen Experten kritisch
Strafverschärfungen und mehr Überwachung sieht der Kriminologe Baier kritisch. „Wir wissen aus der Forschung, dass es Menschen, die Straftaten begehen, in der Regel egal ist, welche Strafe auf die Tat folgt.“ Von Maßnahmen wie dem Führerscheinentzug für Messerstecher, wie sie Innenminister Reul ins Spiel gebracht hat, verspricht sich Baier deshalb wenig. Gleiches gelte für den von Reul angekündigten Ausbau der mobilen Videoüberwachung. Studien hätten gezeigt, dass auch Videoüberwachung nicht helfe, Straftaten zu verhindern. „Zur Aufklärung von Straftaten kann das Videomaterial sicher hilfreich sein, aber eine präventive Wirkung wird es kaum geben.“
Und: Gegen Terroranschläge wie in Solingen helfen Verbote und Messerkontrollen nicht, stellen sowohl der Kriminologe Baier als auch Huth vom BDK klar: „Die Debatte um Messergewalt ist überfällig, aber Taten wie in Solingen müssen davon inhaltlich klar getrennt werden“, so Huth.
Was noch getan werden muss
Noch wichtiger als polizeiliche Kontrollen wie etwa in Messerverbotszonen sei vor allem mehr „informelle Kontrolle“, so der Kriminologe Baier. „Eltern, Freunde, Lehrer und das gesamte soziale Umfeld der Jugendlichen sind gefordert, stärker auf Fehlentwicklungen zu achten.“ Dies sei aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und liege nicht in der Verantwortung der Sicherheitsbehörden.
„Insgesamt sollte man die Diskussion nicht auf das Phänomen Messergewalt verengen, denn die Gewaltkriminalität nimmt in allen Bereichen zu.“ Gefragt sei vor allem Gewaltprävention. „Junge Menschen müssen mit Kompetenzen wie Empathie und Selbstkontrolle ausgestattet werden, noch bevor sie kriminell werden.“