Von allen 27 katholischen Bistümern in Deutschland hat Köln als das mitgliederstärkste auch den größten Rückgang zu verzeichnen. Experten sehen die Missbrauchsskandale als einen der Gründe.
Reaktionen auf Kirchenaustritte„Eine Kirche, die als kriminelle Vereinigung wahrgenommen wird“
Mit einem explosionsartigen Anstieg der Kirchenaustrittszahlen im Jahr 2022 hat der Mitgliederschwund der katholischen Kirche in Deutschland ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Wie die Deutsche Bischofskonferenz mitteilte, sind im vergangenen Jahr mehr als 522.000 Katholikinnen und Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Der bisherige Rekordwert von knapp 360.000 Austritten im Jahr 2021 wurde damit noch einmal um 45 Prozent übertroffen.
Zusammen mit rund 240.000 Todesfällen und nach Verrechnung mit etwa 155.000 Taufen und einer kaum nennenswerten Zahl von 5200 Ein- und Übertritten in die katholische Kirche ergibt sich per Saldo ein Gesamtverlust von mehr als 600.000 Mitgliedern.
Damit gehören mittlerweile nur noch 20,9 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland der katholischen Kirche an – weniger als ein Viertel der Bevölkerung.
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Kölner Austritte erreichen Rekordwert
Von allen 27 katholischen Bistümern in Deutschland hat Köln als das mitgliederstärkste auch den größten Aderlass zu verkraften: 51 345 Katholikinnen und Katholiken im Erzbistum haben 2022 ihren Austritt erklärt. Das sind 10 573 mehr als im Vorjahr. Erstmals in der Geschichte lag die Austrittszahl in Köln über 50.000.
Von den mehr als 520 000 Austritten bundesweit entfällt etwas mehr als ein Viertel (144.500) auf die fünf, sehr unterschiedlich großen NRW-Bistümer. Neben Köln sind das Aachen (18 800 Austritte), Essen (14 100), Münster (33.400 im NRW-Teil des Bistums) und Paderborn (26.900).
Besonders massive Steigerungsraten hatten die traditionell katholischen Bistümer in Westfalen zu verkraften. In Paderborn lag das Plus gegenüber 2021 bei 65 Prozent, in Münster sogar bei 68 Prozent. Das nach Köln mitgliederstärkste Bistum befindet sich damit auch bundesweit in der Spitzengruppe. Ganz oben stehen hier Osnabrück (10.500 Austritte), Regensburg (23.900) und Eichstätt (8600) mit Zuwachsraten von 71 beziehungsweise je 70 Prozent. Überdurchschnittliche Steigerungswerte weisen auch das Mini-Bistum Görlitz (400) und Passau (9300) mit 66 beziehungsweise 64 Prozent auf.
Betroffene Bistümer im kirchenpolitischen Fokus
Alle genannten Bistümer standen auf die eine oder Weise im kirchenpolitischen Fokus: In Münster und Osnabrück wurden 2022 Gutachten veröffentlicht, die der Kirche und ihren Verantwortlichen ein Systemversagen attestierten, aber – wie in Osnabrück – auch dem bis 2023 amtierenden Bischof Franz-Josef Bode schwerwiegendes Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsfällen bescheinigten.
Die anderen Bistümer fielen dadurch auf, dass ihre Bischöfe zusammen mit dem Kölner Kardinal Rainer Woelki jene Minderheiten-Gruppe bildeten, die sich auf dem „Synodalen Weg“ den Reformbestrebungen der großen Mehrheit von Bischöfen und Laienvertretern widersetzte.
In Köln, aber auch in München, zwei durch den Missbrauchsskandal ebenfalls besonders heftig gebeutelten Bistümern, fiel der Anstieg der Austrittszahlen unterdurchschnittlich aus. Er lag in dem von Woelki geführten Erzbistum bei 25 Prozent, in München bei 39 Prozent. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass die Austrittszahlen schon in den Vorjahren sehr hoch waren.
Im Bundesdurchschnitt verloren die deutschen Bistümer im vergangenen Jahr 2,37 Prozent ihrer Mitglieder. Im Vorjahr waren es 1,59 Prozent.
Die evangelische Kirche veröffentlicht ihre Austrittszahlen in jüngster Zeit immer schon im Frühjahr. Für 2022 meldete die EKD 380.000 Austritte. Damit liegen die Zahlen zum vierten Mal in Folge unter denen in der katholischen Kirche – eine Umkehr des in der Vergangenheit üblichen Verhältnisses.
Kölner Vize-Generalvikar Kolb nennt Umgang mit sexuellem Missbruch als Austrittsgrund
Der Limburger Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Bischofskonferenz, nannte die Zahlen alarmierend. Der Kölner Vize-Generalvikar Mike Kolb sprach von „vielen, komplexen Gründen“, die zum Kirchenaustritt führten. Kolb machte insbesondere konkrete Negativ-Erfahrungen mit der Kirche geltend, aber auch Wut, Enttäuschungen und Frust über Repräsentanten der Kirche. Kolb nannte zudem den Vorwurf unzureichender Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Oft sei der Austritt „die einzige Form des Protests von Menschen, die mit ihrer Kirche hadern, an ihr verzweifeln und ihr nicht mehr vertrauen“. Davor müssten kirchliche Verantwortliche zuallererst Respekt haben.
Für die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, drängt „die eklatante Krise“ zum Wandel. „Wir brauchen dringend Reformen.“ Für Menschen auf der Suche nach einem Sinn für ihr Leben sei eine Kirche „im Dauertief mit Personal in der Dauerkrise“, fügte die oberste Laienvertreterin hinzu.
„Kirche wird als kriminelle Vereinigung wahrgenommen“
Der Salzburger Theologe Gregor Maria Hoff kommentierte den Austrittsrekord mit unverhohlenem Sarkasmus: „Kirche kann auch Wachstum.“ Er kritisierte vor allem, dass der Missbrauchsskandal in der Kirche nach wie vor nicht konsequent bearbeitet werde - weder in Deutschland noch auf der Ebene des Vatikans. „Die Serie von Katastrophennachrichten bricht einfach nicht ab“, sagte Hoff dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Auch das schlage ins Kontor. Die „Kölner Ereignisse“ mit der Razzia im Erzbistum just aus dieser Woche seien „ein Fanal“ und zeigten genau das Problem: „ein Kardinal unter Meineid-Verdacht und eine Kirche, die mit wachsender Selbstverständlichkeit als kriminelle Vereinigung wahrgenommen wird“.
Hoff fragte auch nach der Verantwortung der Kirchenleitung für die horrenden Austrittszahlen. „Wer als Bischof weiterhin auf seiner „Letztverantwortung“ besteht, müsste jetzt persönliche Konsequenzen ziehen. Nirgends käme eine Führungspersönlichkeit mit einer solchen Negativbilanz durch. In der katholischen Kirche aber ergeht man sich in der Betulichkeit eines langsamen Wegsterbens.“
Als Problem für die Kirche markierte der Theologe, dass man mit ihr nichts Positives mehr verbinde. Beispiele, wie das noch gelungen sei, fielen in die Frühphase des Pontifikats von Papst Franziskus. Seine Enzyklika „Laudato si“ mit dem Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung etwa sei ein klares Signal gewesen, dass die Kirche an der Seite der Menschen steht. „Überall, wo sie das tut, trifft sie auch auf Resonanz“, so Hoff.