Anfang Juli wurden zwei Geiseln in Köln-Rodenkirchen von der Polizei befreit. Die Tat ging wohl aufs Konto eines niederländischen Kartells.
„Holländisches Kartell“Geisel in Rodenkirchener Villa sollte sterben – Mittäter flüchtete
Tarek K. (Name geändert) stand vor der Wahl: Töten oder fliehen. An jenem frühen Morgen des 5. Juli sollen ihm die Kidnapper aus den Niederlanden eine Pistole in die Hand gedrückt haben. Der 24-Jährige, Mitglied eines berüchtigten kurdisch-libanesischen Clans aus Gelsenkirchen, sollte eine von zwei Geiseln erschießen. Sie befanden sich in einer Villa in Köln-Rodenkirchen, einem sogenannten Safe-House.
Mit der Tötung hätte wohl Druck auf die Familie ausgeübt werden sollen. Bei K.s Auftraggebern soll es sich nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ um drei Mitglieder eines Drogennetzwerks handeln, das sich „das holländische Kartell“ nennt. Den bisherigen Erkenntnissen zufolge forderten sie wohl ihre aus einer Lagerhalle in Hürth gestohlene Cannabis-Lieferung zurück.
Drogendealer aus Kalk wurde beraubt
Dort soll der 22-jährige Drogendealer Samir A. (Name geändert) aus Kalk dem holländischen Kartell zuvor einen Rauschgiftbunker für Cannabis und Haschisch zur Verfügung gestellt haben. Das Kartell soll 700 Kilogramm dorthin transportiert haben, um es anschließend auf dem rheinischen Schwarzmarkt zu verteilen. Doch dann hatten bisher Unbekannte die Hälfte der Ware bei einem Überfall geraubt.
Nun also forderten die Niederländer von den Geiseln: 350 Kilogramm Gras oder den Gegenwert von 1,5 Millionen Euro in cash. Wenn nichts davon erfolge, sollte zuerst der gekidnappte Mehmet L. (Name geändert) sterben. Der 34-jährige Libanese und seine Freundin aus Bochum sollen seit dem Vortag gefangen gehalten worden sein, weil ihre Familie die mutmaßlichen Diebe der Drogen in Hürth waren. Vermutlich ein Irrtum, aber die Kidnapper schienen sich sicher zu sein, die Richtigen erwischt zu haben. Schließlich soll die Familie der Entführten auch am Drogengeschäft beteiligt sein.
„Knall ihn ab“, soll einer der Niederländer Tarek K. befohlen haben, erst dann würde man ihm vertrauen. So steht es in seinem Vernehmungsprotokoll, das diese Zeitung einsehen konnte. Doch K. schoss nicht. Nach außen hin habe er auf cool gemacht, berichtete K. in seiner Vernehmung laut Protokoll. Aber das wäre ihm eine Nummer zu groß gewesen, er sei ja kein Mörder. Laut den Erkenntnissen der Ermittler ist K. eine Clan-Größe, staatenlos, er wird in seinen Kreisen auch der „Goldpate“ genannt. Laut Protokoll hätte er sich unter einem Vorwand verdrückt, raus aus dem Folterkeller nach oben, um eine Zigarette zu rauchen.
Flucht ins Ruhrgebiet
Draußen will Tarek K. einen der Anführer belauscht haben. Aus dessen Worten hätte er geschlossen, dass er nach dem Mord selbst hätte umgebracht werden sollen. Laut seiner Aussage überwand er daraufhin eine Mauer, lief zur Autobahn 555, fand dort Hilfe und gelangte zurück ins Ruhrgebiet. Am selben 5. Juli um 9.10 Uhr vertraute sich K. der Polizei in Essen an und gab den Ort der Geiselnahme in Rodenkirchen preis.
Die drei Männer aus Amsterdam hätten den Ton angegeben, so soll es K. berichtet haben. Die seien zu allem fähig, könnten auch sprengen. Die Niederländer vom Kartell habe K. als bezahlte Killer bezeichnet, als weitere Wächter seien vier Kriminelle aus dem rechtsrheinischen Köln angeheuert worden. Die Befehle hätte der rheinische Statthalter des Kartells namens X1 oder Xidir erteilt, so berichtete es der Zeuge. Auch ein Mann aus Kalk, der ein langes Vorstrafenregister aufweise, habe eine führende Rolle bei der Geiselnahme gespielt. Die beiden hätten die Folter-Videos der Geiseln für die Kartell-Bosse in den Niederlanden aufgenommen.
X1 oder Xidir soll es gewesen sein, der der Familie der Geiseln ein Zwölf-Stunden-Ultimatum stellte, um die geraubte Ware wiederzubeschaffen. Während die Stunden verrannen, soll vor allem Mehmet L. mit grünen und gelben Stöcken malträtiert worden sein. Seiner libanesischen Freundin hätten die Kidnapper eine Pistole an den Kopf gesetzt, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen. Sie habe im Nachbarraum im Keller die schmerzerfüllten Schreie von L. hören können, was ihre Angst noch zusätzlich verstärkt habe.
SEK nahm fünf Personen fest
Die Verhandlungen zwischen den Entführern und der Familie der Geiseln sollen sich nach Aussage K.s im Kreis gedreht haben. Eine Drohung jagte die nächste. „Entweder 1,5 (Millionen) oder der Stoff oder Dein Bruder ist tot“, soll der Kartellchef gepostet haben. „Willst Du Krieg?“, soll der Bruder des Entführten erwidert haben, der auch immer wieder beteuert habe, nichts von den gestohlenen Drogen zu wissen. Der holländische Wortführer habe drei Stunden vor Fristende schließlich angekündigt, bald das Foto vom toten Bruder zu schicken.
Dazu kam es nicht mehr. Ein Spezialeinsatzkommando befreite die Entführten am frühen Abend, nahm fünf Personen fest und stellte fünf Pistolen sicher. Die drei niederländischen Tatverdächtigen konnten flüchten und tauchten in Amsterdam ab.
Zunächst gab sich Kronzeuge Tarek K. als Opfer der drei Kidnapper aus Holland aus. Tenor: Er sei zum Komplizen gezwungen worden. Inzwischen aber sitzt K. in Untersuchungshaft. Offenbar hat er nicht die ganze Wahrheit gesagt. Tatsächlich soll er Mehmet L. und seine Partnerin unter einem Vorwand in Bochum in die Falle gelockt und die Entführung damit ermöglicht haben.
Der Fall dokumentiert einmal mehr: Die niederländische Drogen-Mafia hat im Rheinland längst ihre Terrains abgesteckt und Kontakte etabliert. Wer nicht spurt, der spürt Gewalt – dafür steht auch eine ganze Reihe von Sprengstoffanschlägen in Köln und an der Ruhr. Die Beamten der zuständigen Ermittlungsgruppe „Sattla“ fügen derzeit einen personellen Mosaikstein nach dem anderen in das komplexe Gefüge des bisher größten Drogenkrieges in NRW ein.
In einem Vermerk berichtet die Staatsanwaltschaft, dass der Konflikt um das geraubte Cannabis viel früher als bekannt seinen Lauf genommen haben soll. So sollen nach Informationen dieser Zeitung bereits am 16. Juni ein Mann und eine Frau in Rösrath und Köln-Merheim entführt worden sein und nach ihrer Freilassung erhebliche Verletzungen aufgewiesen haben. Beiden sollen die Kidnapper eine Hand gebrochen haben. Bei dem männlichen Opfer stellten die Drogenfahnder sechs Kilogramm Haschisch sicher. Die Handyauswertung hat laut Ermittlungsakten zur Lagerhalle nach Hürth geführt.
Der Kölner Drogendealer Samir A., der dort die Drogen gebunkert hatte, wurde inzwischen auf der Flucht in Paris auf dem Flughafen verhaftet. Das Auslieferungsverfahren läuft noch.