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US-Wähler in KölnDie lange Nacht der enttäuschten Hoffnungen

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John Doyle verfolgt die Wahl in seinem Wohnzimmer – zwischen Flipchart und Flachbildschirm.

Köln – Unzählige Male wird John Doyle (57) in dieser Nacht noch vom Wohnzimmersofa in der Kölner Innenstadt aufspringen, zum Flipchart gehen und die Bundesstaaten verteilen – Trump links, Biden rechts, die Nicht-Entschiedenen in der Mitte. Es ist halb fünf und Florida, von dem alle behaupten, wer den holt, macht das Rennen, immer noch nicht entschieden. Florida ist megaeng und seine Mutter, die dort lebt, hypernervös.

Immer wieder skypen. Mit seiner Tante Marie-Ann in New Jersey, die als beste Lehrerin des Bundesstaats Barack Obama im Weißen Haus getroffen und auch Joe Biden schon mal begrüßt hat. „In unserer Familie ist politisch alles vertreten“, sagt John und lacht. „Meine Tante vertritt den linken Flügel, ich bin der Moderate unter den Demokraten. Mein Bruder Michael lebt in Alabama und hat Trump gewählt. Wir haben uns dazu entschlossen, über alles zu reden, nur nicht über Politik.“

„Meine Heimat haben wir“

Deshalb ist Michael der einzige, den John in dieser Nacht nicht anrufen wird. Seit 28 Jahren lebt er schon in Köln, hat Journalismus studiert, damals bei der Deutschen Welle ein Praktikum gemacht, dort seine Frau kennengelernt und ist hängengeblieben. Heute verdient er sein Geld als Comedian beim Quatsch Comedy Club und mit Solo-Programmen.

Kurz vor drei Uhr. CNN vergibt New Jersey endgültig an Biden. „Meine Heimat haben wir. Aber das ist keine Überraschung“, sagt John Doyle. Die Kinder, sagt seine Tante Marie-Ann, werden am Mittwoch schulfrei haben. „Wir wollten, dass sie die Wahl verfolgen können und werden heute zwei Zoom-Sessions machen und mit ihnen diskutieren, wie es mit unserem Land jetzt weitergeht.“

Für ihre Schwiegertochter Debbie (28), die heute Geburtstag hat, wird die Stimmung auch vom Wahlausgang abhängen. Noch einmal vier Jahre Trump mag sie nicht ertragen, sagt sie. „Als Latina muss man Biden wählen.“ John wird später erzählen, dass in Debbies Familie die Meinungen darüber auch auseinander gehen. „Sie sind Einwanderer aus Puerto Rico und sehr christlich eingestellt.“ Stimmen für Trump.

Entscheidung in Pennsylvania?

Nächster Anruf bei Richard in Kalifornien. Richard stammt aus Pennsylvania, lebt aber seit vielen Jahren im Silicon Valley. Wieder geht es um Florida. „Jedes Mal, wenn ich aufstehe und mir in der Küche einen Chardonnay hole, dreht sich das Ergebnis. Das macht mich nervös.“

Pennsylvania, sagt Richard, sei bei allen Präsidentenwahlen nie über die Rolle des „bescheidenen Nebendarstellers“ hinausgekommen, aber diesmal könne es sein, dass Biden eine Chance habe. „Wenn ich mit meinen Freunden rede, die wollen alle eine Veränderung.“ Das werde auch nötig sein, antwortet Joe. „Wenn Biden Florida nicht holt, muss er einen anderen der Swing States knacken. Sonst wird das nichts.“ In Florida stehen die Zeichen um vier Uhr auf einen Sieg für Trump. Sein Vorsprung vor Biden: knapp zwei Prozent. Dem Mittleren Westen kommt eine hohe Bedeutung zu.

Kein Verständnis für radikale Positionen

Zwischen all den Telefonaten mit den Verwandten und Freunden in den Staaten bleibt trotzdem viel Zeit in dieser langen Wahlnacht. Er habe kein Verständnis für radikale Positionen, sagt John. „Ich habe ein Problem damit, wenn man von mir erwartet, dass ich die Hälfte meines Landes nicht mögen soll und versuche lieber zu verstehen, warum die Leute so sind, wie sie sind.“

Es sei ein Fehler gewesen, Trump zu unterschätzen. „Er weiß genau, was er tut. Das macht ihn so gefährlich.“ Trump habe sich nie als Präsident aller Amerikaner gesehen und nichts dafür getan, die gespaltene Nation zu einen. „Er war vier Jahre lang im Wahlkampf, hat immer nur seine Werte vertreten“, sagt er. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.“

Dennoch sei die Präsidentenwahl keine Entscheidung für oder gegen Trump. Vielmehr gehe es um die Frage, wie liberal Amerika sein soll. „Und es gibt hier viele Menschen, die wollen kein liberales Amerika.“ Die USA seien zum großen Teil provinziell, ländlich, anti-akademisch und eher pragmatisch veranlagt. „Wir sind in unserer Mentalität immer noch ein Land der Arbeiter und Angestellten.“

John Doyle will Lebensabend in den USA verbringen

Am Mittwoch wird John Doyle viele Interviews geben. Dass ihm die USA nach so vielen Jahren in Deutschland fremd geworden sind, gibt er offen zu. Vor der Corona-Pandemie sei er zweimal im Jahr „nach Hause“ geflogen und habe jedes Mal mehr gespürt, „dass ich nicht mehr der Amerikaner bin, der ich einmal war. Viele sehen mich als einen Ausländer, der nicht mehr weiß, wovon er redet, weil er zu lange weg war.“

Und dennoch würde er den letzten Teil seines Lebens wieder in den USA verbringen. „Ich war Mitte 20, als ich nach Deutschland kam. Wenn Du als Erwachsener auswanderst, wirst Du immer ein Amerikaner im Ausland bleiben. Ich würde schon gern einen Teil meines Lebens wieder in meiner Muttersprache verbringen.“ Die Krankenversicherung sei dabei das größte Hindernis. John Doyle musste sich vor zwei Jahren einer Bypass-Operation am Herzen unterziehen und gilt seither als Risikopatient. Amerika, sagt er, könne er sich „rein gesundheitstechnisch nicht leisten“. Das gelte auch für seine Frau Martina (61), die als Deutsche in den USA ebenfalls keinen Versicherungsschutz bekommen werde.

Nur Swing State Arizona zeigt klare Tendenz für Biden

Sechs Uhr morgens. „Im Moment ist es enttäuschend“, sagt John. Es sieht so aus, als könne Joe Biden lediglich den Swing State Arizona für sich verbuchen. Außerhalb der großen Städte sei Amerika eben doch eher ländlich und provinziell geprägt. Bleibt noch die Hoffnung auf die Briefwahl-Auszählung.

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Am Donnerstagabend wird der Comedian einen Auftritt per Zoom virtuell mit Gästen im Amerika-Haus haben. Dort soll er sich mit der Präsidentenwahl komödiantisch auseinandersetzen. Das ist sein Auftrag. Er habe das Gefühl, dass die Leute die ganzen Witze über Trump inzwischen eher ermüdend finden, sagt er. Er sei jetzt ziemlich müde. Und leicht deprimiert. Das sind keine guten Voraussetzungen für gute Ideen.