Weil sie in Köln demonstrierteDeutscher drohen in der Türkei zehn Jahre Haft
Köln/Istanbul – Die Kölnerin Gönül Örs soll in der Türkei zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden – weil sie vor neun Jahren am Kölner Rheinufer an einer Demonstration für die Rechte von Kurden teilgenommen hatte. Die Staatsanwaltschaft kündigte am Dienstag in Istanbul an, Örs, die einen deutschen und einen türkischen Pass besitzt, solle wegen vermeintlicher „Kaperung“ eines Ausflugsschiffs, Freiheitsberaubung und Terrorpropaganda verurteilt werden. Die Einzelstrafen betragen für den Propagandavorwurf ein bis fünf Jahre, für die vermeintliche Freiheitsberaubung und „Schiffsentführung“ zwei bis sieben Jahre. Sie sollen zu einer Gesamtstrafe zusammengefasst werden, die ihrer Anwältin zufolge zehn Jahre betragen könnte.
Ermittlungen in Deutschland schnell eingestellt
Die Sozialwissenschaftlerin Gönül Örs hatte am 15. April 2012 auf dem Ausflugschiff Colonia 6 mit neun weiteren Aktivistinnen für hungerstreikende Kurdinnen demonstriert und das Schiff dabei für wenige Minuten besetzt. Die Schifffahrtsgesellschaft sah keinen Grund für eine Strafanzeige, trotzdem gab es ein Ermittlungsverfahren – das von der Kölner Staatsanwaltschaft umgehend eingestellt wurde. Brisant an dem Fall ist auch, dass sich die türkische Justiz angeblich auf Dokumente des Bundeskriminalamts stützte, in denen die Ermittler von „PKK-Kämpfern“ und „kurdischen Militanten“ sprach. Die Kölner Staatsanwaltschaft sah keinerlei Anzeichen dafür.
Örs hatte fest mit einem Freispruch gerechnet
„Ich hatte fest damit gerechnet, bald nach Deutschland zurückkehren zu dürfen und schon nach Flügen zurück nach Köln geschaut“, sagt Örs, die lange auch aus Sorge vor Nachteilen keine Interviews gab, dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am Telefon. „Leider besteht Recht in der Türkei nur auf dem Papier. Die Vorwürfe sind völlig absurd, das haben die deutschen Behörden ja auch längst festgestellt. Trotzdem sitze ich seit zwei Jahren in der Türkei fest und könnte jetzt für zehn Jahre ins Gefängnis kommen." Es handele sich um einen „rein politischen Prozess“, sagt Örs, die seit langem unter Depressionen und Schlafstörungen leidet. „Meine Mutter und ich und viele andere werden vom türkischen Regime als Geiseln genommen, um andere Regimekritiker abzuschrecken.“
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Immer wieder legt sie Pausen ein - als ob ihr die Worte fehlten. „Es ist einfach eine riesige Ungerechtigkeit: Menschen, die frei sprechen und sich für Minderheiten einsetzen, werden willkürlich weggesperrt – um auch andere mundtot zu machen."
Auch gegen ihre Mutter Hozan Cane wird prozessiert
Manchmal bricht Örs‘ Stimme, während sie sich an die Zeitspanne erinnert, seit sie im Mai 2019 bei der Einreise in die Türkei festgesetzt wurde, als sie ihre Mutter Hozan Cane im Gefängnis besuchen wollte. Als sie sich an die Untersuchungshaft erinnert und Gedanken aufkamen, ihr Leben sei jetzt vorbei. Auch Cane ist Deutsche und lebte vor ihrer Inhaftierung in der Türkei im Juni 2018 in Köln, auch sie ist Menschenrechtsaktivistin, auch ihr wird wie fast jeder Kritikerin des Erdogan-Regimes „Terrorpropaganda“ vorgeworfen.
Schuldgefühle der Mutter
Cane war in der Türkei zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden, nachdem sie eine Veranstaltung der legalen kurdischen Partei HDP besucht hatte. Ein türkisches Gericht entschied indes, dass ihr Prozess neu aufgerollt werden müsse. Cane kam frei, momentan leben Mutter und Tochter in Istanbul und dürfen die Türkei nicht verlassen, zwischendurch musste Örs monatelang eine elektronische Fußfessel tragen. „Uns wurde unser Leben genommen, die Arbeit, die Freiheit, die Träume, die mentale Gesundheit. Aber wir lassen uns nicht brechen, auch wenn wir oft mit unserer Kraft am Ende sind“, sagt Örs. Ihre Mutter habe in der Haft verlernt, Deutsch zu sprechen, sie habe Schuldgefühle gegenüber ihr, „weil ich sie ja besuchen wollte und seitdem auch hier festsitze“.
SPD-Fraktionsvorsitzender entsetzt
Rolf Mützenich, SPD-Fraktionsvorsitzender, der sich seit vielen Jahren für Deutsche einsetzt, die in der Türkei inhaftiert werden, sagt, er sei „entsetzt und sehr überrascht“ von der Strafankündigung aus Istanbul. „Ich hatte auf eine Einstellung des Verfahrens gehofft und sie auch erwartet. Es ging um eine Bagatelle, die nach einem deutschen Ermittlungsverfahren eingestellt wurde.“ Die türkische Justiz handele seit Jahren „willfährig“, von einem Rechtsstaat könne keine Rede sein. Helfen könne Gönül Örs und Hozan Cane jetzt vor allem „eine breite Solidarität“. Die, sagt Örs am Telefon, spüre sie schon. "Unser Austausch mit der Botschaft und dem Auswärtigen Amt ist eng, wir bekommen sehr viel Zuspruch aus Deutschland und aus der Türkei, ohne den wir wahrscheinlich längst zusammengebrochen wären." Das Urteil im Prozess gegen Gönül Örs soll am 24. Juni gefällt werden, der Prozess gegen ihre Mutter wird einen Monat später fortgesetzt.