Seit Jahren gilt Mülheim als sozialer Brennpunkt. In Nihat Topkayas Boxverein lernen Jugendliche nicht Lektionen für den Sport, sondern auch fürs Leben.
„Große Familie“ im BrennpunktviertelWie ein Kölner Boxtrainer für den Ring und für das Leben vorbereitet

Disziplin und klare Ansagen: Das sind für Nihat Topkaya in seinem Boxclub BSC Köln-Mülheim die Grundbausteine für Erfolg.
Copyright: Michael Bause
„Auf die Grundlinie!“, ruft Nihat Topkaya um Punkt 17:30 durch die Halle. Sofort setzt sich eine Traube Jugendlicher in Bewegung. Eine Linie ist auf dem schwarzen Mattenboden nicht eingezeichnet, trotzdem stehen innerhalb weniger Sekunden 28 Jungen und Mädchen in Reih und Glied vor Topkaya. „Okay, kann losgehen – aufwärmen“, sagt Topkaya knapp, bevor die Gruppe beginnt, um den Boxring zu joggen. Hinter dem Boxring an der Wand steht ein Plakat, darauf ein riesiges Zitat „Wer im Training nicht schwitzt, blutet im Ring.“
Disziplin, Ehrlichkeit, klare Ansagen: Für Boxtrainer Topkaya sind das die Grundbausteine, um etwas erreichen zu können, ob im Boxring oder im Leben. „Ohne Disziplin, ohne Respekt geht es nicht. Das ist das Wichtigste, was ich den Jugendlichen hier vermitteln will“, sagt Topkaya, während die Jugendlichen im Alter von zehn bis 15 Jahren nach dem Aufwärmen in Zweier-Gruppen die in der Halle verteilten Boxsäcke bearbeiten. Topkaya begleitet die Übungen mit strengem Blick, während er von seinem Werdegang erzählt.
Ausflug mit dem Boxtrainer zum Wiener Platz
Vor 15 Jahren hat er den BSC Köln-Mülheim gegründet, Topkaya, 49 Jahre alt, ist erster Vorsitzender und einziger Trainer des Vereins, steht 365 Tage im Jahr im Ring, rund 250 Mitglieder hat der Verein mittlerweile. „Ich wollte mir hier immer eine große Familie aufbauen, einen Verein schaffen, in dem jeder willkommen ist, egal wie er aussieht oder was er draufhat.“
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Vor 15 Jahren hat Topkaya, Ex-Profiboxer, Ex-Türsteher, seinen Boxclub eröffnet.
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Seit Jahren gilt Mülheim als sozialer Brennpunkt, der Wiener Platz im Zentrum des Bezirks mit seiner Drogen- und Trinkerszene ist bei Anwohnern genauso wie der Polizei als Kriminalitätsschwerpunkt bekannt. „Manchmal im Sommer“, sagt Topkaya, „gehe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern Eis essen am Wiener Platz. Das ist der beste Ort, um ihnen die Augen zu öffnen.“ Beim Blick auf den Platz fragt Topkaya sie dann: „Guckt mal, wollt ihr so enden? Als Dealer oder als Junkie?“ So ein Ausflug, glaubt er, „das kann schon Wunder wirken.“
Dieser Schritt auf die falsche Bahn, zu den Drogen, zu den falschen Freunden, das passiert bei vielen ja, weil sie unsicher sind, weil sie Anschluss finden wollen.
Das Boxen, glaubt Topkaya, hält viele Jugendliche davor ab, kriminell zu werden. „Dieser Schritt auf die falsche Bahn, zu den Drogen, zu den falschen Freunden, das passiert bei vielen ja, weil sie unsicher sind, weil sie Anschluss finden wollen. Hier aber, hier erlernt man Selbstbewusstsein, man kriegt Anerkennung für echte, für ehrliche Leistung.“

Das Boxen, glaubt Topkaya, hält viele Jugendliche davor ab, kriminell zu werden.
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Dass einem das Boxen Selbstbewusstsein beibringt, dafür sei er das beste Beispiel. „Als kleiner Junge habe ich sehr oft auf die Nase bekommen. Und irgendwann dachte ich mir: Nein, das lasse ich mir nicht gefallen. So bin ich zum Boxen gekommen.“ Das habe ihn nicht nur stärker gemacht, sondern auch gelassener, wenn es hitzig wurde.
Er selbst hat ein paar Jahre als Profiboxer gekämpft, danach arbeitete er in der Sicherheitsbranche, hatte einige Mitarbeiter, die für ihn den Türen von Kölner Clubs standen. „Die habe ich trainiert. Und irgendwann haben die gesagt: warum machst du nicht einen eigenen Verein auf?“ Irgendwann hat Topkaya auf sie gehört – und stieg aus der Sicherheitsbranche aus.
Schule hat Vorrang
Im Rückblick bezeichnet Topkaya die Jahre als Türsteher als „vergeudete Zeit. Mit dem hier“, sagt er und zeigt ringsherum in seine Halle, „damit hat die schönste Zeit meines Lebens begonnen.“ Wenn Topkaya anfängt, über seine Schülerinnen und Schüler zu reden, gerät er ins Schwärmen. „Die Shifa zum Beispiel“, sagt er und deutet auf ein Mädchen, die mit schnellen Schritten um einen Sparringspartner herumtänzelt, „als die hier zum ersten Mal aufgetaucht ist, war das ein total schüchternes Mädchen, hat sich in einer Ecke versteckt und dort Schattenboxen gemacht.“ Mit der Zeit sei sie aufgetaut, habe mehr Zutrauen in ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial bekommen. „Dieses Jahr kämpft Shifa bei den Deutschen Meisterschaften“, sagt Topkaya und lächelz stolz.

Shifa kommt seit zwei Jahren in den Boxclub von Topkaya – und hat große Ziele.
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„Am Anfang ging es mir nur darum, ein bisschen Selbstverteidigung zu lernen. Aber das Boxen hier hat mir auch geholfen, sozialer zu werden“, sagt Shifa in einer Sparringspause. Nun hat sie andere Ziele: „Irgendwann will ich Profiboxerin werden. Aber Nihat sagt: Schule geht vor. Deswegen muss ich erstmal meinen Abschluss machen.“
Topkaya bestätigt das: „Wer die Schule schwänzt oder vernachlässigt, dem sagen wir: Geht nach Hause, werde besser, dann habt ihr auch wieder hier einen Platz.“ Zumindest bei Shifa scheinen solche Ansagen Wirkung zu zeigen. Ihre Noten seien gut, sagt sie.
Sein Verein finanziere sich komplett selbst, sagt Topkaya. „Auf Unterstützung von der Stadt oder vom Land sind wir nicht angewiesen.“ Einige Ex-Schüler, die mittlerweile weggezogen sind oder aus anderen Gründen nicht mehr zum BSC Köln-Mülheim kommen können, zahlen auch noch Jahre später weiter Beiträge an den Verein. „Die sagen mir, der Boxclub war so wichtig für sie, das wollen sie weiter unterstützen. Etwas Schöneres kann ich mir gar nicht wünschen.“
Ein Freund habe ihm vor kurzem mal gesagt, Topkaya habe sich in seiner Boxhalle seine eigene Welt geschaffen. „Und das stimmt. Das war immer das Ziel. Für mich gibt es nur noch mein Boxclub und meine Familie.“ Für Topkaya ist das mittlerweile fast das Gleiche: „Es ist eine schöne Welt.“