Party-Hotspot menschenleerKölner fotografiert „Ballermann“ während Corona-Pandemie
Köln – In der Isolation gewinnen Gedanken an Ausschweifung mit jedem Tag an Reiz. Die soziale Monotonie und Monogamie möge eines Tages in eine Explosion der Lebensfreude münden, Zeiten von Rausch und Selbstvergessen. Zwischen alles an den Rand drängenden Corona-Nachrichten, Videokonferenzen, Lockdownverlängerungen und maskierten Einkäufen guckt man beim Irrlichtern durch die Stadt in die stummen Kneipen und wünscht sich, mit Irgendwem im Arm auf den Tischen zu tanzen, jetzt, sofort. Karneval, Oktoberfest und Ballermann ohne Menschen, das ist die Katharsis einer Gesellschaft, die nach langem Wachstumsrausch bewussstlos geworden ist.
Ort des Vergessens ist jetzt ein Symbol für den Tod
„Ballermann, 5 Uhr 30 Uhr“, heißt das Buch, für das der Kölner Stefan Flach im Sommer 2020 den Strandabschnitt Balénario in Palma de Mallorca besucht hat. In schmucklosen Bildern hat der Fotograf an einem Sommermorgen festgehalten, dass ein Ort, der sich über gemeinschaftliches Erleben definiert, ohne Menschen nicht existiert. Der Über-Ort Ballermann, an dem zeitgleich Tausende Menschen tranken, tanzten, Wunden leckten, ist zum Nicht-Ort geworden.
Ohne Partymeute sind die teutonischen Tempel des Exzesses namens Bierkönig, Oberbayern und Megapark nutzlos. Ordinäre Lokalnamen wie „Wurstkaiser“, „Grillmüller“ oder „Schinkenbude“ klingen in der Vergnügungssteppe plötzlich ironisch. Der Strandabschnitt mit all seinem kontrollverlustigen Leben, in dem die einen Trost, die anderen nur Tristesse fanden, ist jetzt ein Symbol für jenen Teil des Lebens, der von modernen Gesellschaften am liebsten verdrängt wird – sei es durch Rausch, Technologien oder jedwede Verjüngungsversprechen – und sich mit dem Virus plötzlich wieder eingenistet hat: den Tod.
Wortschöpfung geht auf Kölner Kegelverein zurück
Der menschenleere Ballermann bietet in der Corona-Pandemie Raum für Träume und Albträume, Assoziationen und Transitgedanken. Der vulgäre Mythos wird zu einem „mystischen Ort“, wie Flach in seinem Vorwort schreibt, an dem sich „neue Sichtweisen und Lesarten eröffnen“ mögen.Wenn man der „Mallorca-Zeitung“ glauben darf, ist die Wortschöpfung Ballermann dem Kölner Kegelverein FC Merowinger zu verdanken, der 1972 zum ersten Mal an die Playa de Palma flog, und den Balénario nach einigen Bieren zum Ballermann taufte, um die schwere Zunge zu schonen.
Reich geworden ist mit dem Begriff der Bayer André Engelhardt, der sich die Marke „Ballermann“ vor gut 20 Jahren schützen ließ – für ätherische Öle genauso wie für Christbaumbeleuchtungen oder Spielfilme; mit Lizenzrechten und auch dank Hunderter Klagen wurde er zum Millionär.
Im Vorwort des Buchs definiert Engelhardt den Ballermann als „Gemeinschaft von netten Leuten, die gerne feiern und miteinander Spaß haben wollen“, egal ob auf Mallorca, im Westerwald oder beim Schlagermove in Hamburg. Im Nachwort denkt der Soziologe und Unterhaltungswissenschaftler Sacha Szabo darüber nach, warum der um Affektkontrolle bemühte Homo Sapiens sich von vermeintlich vulgären Party-Touristen abgrenzt, warum er Überschreitungen wie am Ballermann, die er selbst anderweitig sublimiert, sozial zu sanktionieren versucht.
Buch wertet nicht über die Amüsiermeile
Neben ganzseitigen Fotos finden sich in dem Bildband Zitate von Partyhelden wie Mickie Krause („Sei gepriesen für Urlaub und Safari! Sei gepriesen für Wodka und Bacardi! Sei gepriesen für Opel und Ferrari! Sei gepriesen, denn Du bist wunderbar!“), Sätze von Tourismusmanagern, Journalisten, Schlagermusikern, Mallorcinern, Auszüge aus Speisekarten und Romanen. Stefan Flach, der sagt, mit Neugier, Skepsis und Vorurteilen zum Ballermann gereist zu sein, hat eine etwas wilde Mischung zusammengestellt, die gemeinsam mit seinen Fotos der menschenleeren Partymeile ihren Zweck erfüllt: Statt zu werten, soll sich jeder selbst seine Gedanken machen. Über Schlager, Sangria und Sonnenbrand, Gemeinschaft und Vereinzelung, Affektkontrolle, Zivilisationsauswüchse und die Sehnsucht nach Kontrollverlust.
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Die Fallhöhe ist gewaltig am Ballermann in Zeiten der Corona-Krise. Das Buch eröffnet ein Spannungsfeld, das über den Ort hinausweist.
Ballermann 5 Uhr 30 Uhr, fotografiert von Stefan Flach, ist das dritte Buch aus dem Kölner Weissmann Verlag. Zuvor erschienen sind der Erzählband „Nachts nicht weit von wo“ und „RatSchläge – Gegen Wohnungsnot und Stadtraumzerstörung in Köln“.