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Bruce Springsteens Corona-ÄngsteWar es das mit dem Touren?

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Bruce Springsteen

New Jersey – „Wach auf“, drängt der Prediger, „und schüttele deine Mühen ab, mein Freund.“ Dann weist er der Gemeinde den Weg ins Paradies. Dahin, wo die Musik niemals aufhört, von den Stadien zu den Kleinstadtkneipen. „Wir treffen uns im Haus der tausend Gitarren.“ Man kann ihm unmöglich zuhören, ohne die Melodie seiner Worte mitsummen zu wollen. Man möchte Nebenmann und –frau unter die Arme nehmen, auch wenn da gerade niemand ist, möchte gemeinsam zum klimpernden Piano wogen und dem „kriminellen Clown, der den Thron gestohlen hat“ mit der Macht der Musik bannen.

Wer jemals eine der Dreieinhalbstundenshows von Bruce Springsteen und seiner E Street Band besucht hat, weiß, wovon in „House of a Thousand Guitars“ gesungen wird, weiß um das kommunale Erlebnis, das im Prinzip zwar jedes Konzert verspricht, aber niemand so vollumfänglich einzulösen versteht wie der Mann aus Freehold, New Jersey.

Springsteen ist jetzt 71 Jahre alt. Vor vier Jahren hat er damit angefangen, die Summe seines Lebens zu ziehen. Hat mit „Born to Run“ eine schonungslos ehrliche Autobiografie veröffentlicht und sich mit der Solo-Show „Springsteen on Broadway“ auf äußerst charmante Weise entzaubert.

Sein Leben lang habe er die Menschen davon überzeugen können, verkündete er auf der Bühne von Manhattans Walter Kerr Theatre, für die einfachen Arbeiter, die Provinzbewohner mit großen Träumen und kleinen Rücklagen, zu sprechen. Oder für die Outsider, die die große Freiheit auf den Landstraßen suchen, die Gas geben und niemals in den Rückspiegel schauen. Dabei sei er nie in seinem Leben einem regelmäßigen Job nachgegangen. Und seinen Führerschein hat er erst gemacht, als er seine besten Autosongs längst geschrieben hatte.

Eigentlich wäre das nicht bemerkenswert. Nur, dass Springsteen die Verlierer und Träumer in seinen Songs so überzeugend zu verkörpern verstand, dass man oft vergaß, dass er ja eigentlich ein Künstler ist und ein sagenhaft erfolgreicher noch dazu.

Aber, wie gesagt, er ist jetzt 71. Er steht seit 55 Jahren auf Bühnen, und doch – das hat er der „New York Times“ erzählt – spiele er jetzt so gelöst wie nie zuvor und die Band habe auch nie besser geklungen. Was, wenn das Virus noch auf Jahre große Konzerte verhindert? War es das für ihn dann gewesen, mit dem Touren?

Das ist die große Frage, die Bruce Springsteen auf „Letter to You“, seinem 20. Studioalbum, umtreibt. Es ist auch das erste Album seit sechs Jahren, das er mit der E Street Band aufgenommen hat. 2019 hatte er mit „Western Skies“ noch eine ausgeklügelte, und formatradioglatte Hommage an den country-poppigen Bakersfield-Sound der 60er und 70er Jahre herausgebracht, eine echte Überraschung.

„Letter to You“ dagegen könnten selbst Menschen, die nur „Born in the USA“ kennen als Springsteen-Platte identifizieren, nie klang er selbstähnlicher. Was einfach daran liegt, dass er sie in nur vier Tagen nahezu live mit seiner Band eingespielt hat. Und dass sie, als Ersatz für die vom Virus gestohlenen Dreieinhalbstundenshows, auch insgesamt der Dramaturgie eines Springsteen-Gigs folgt: Von tief berührenden Songs über Einzelschicksale bis zum allumfassenden, weltumspannenden Gottesdienst.

Lieder gegen den Tod

„Eine Minute bist noch da, in der nächsten schon fort“, singt Springsteen im zarten Auftaktstück. Es geht um die Freunde, die er schon zurücklassen musste, zuletzt starb ein Mitglied seiner allerersten Band, The Castiles, was ihn zum „Last Man Standing“ machte, so erzählt es ein anderer Song. Er fährt also weiterhin im Rückwärtsgang (es gibt auch noch eine begleitende Dokumentation zu „Letter to You“), im Prinzip dreht sich hier jedes Lied um sein Selbstverständnis als Künstler, seine Beziehung zur E Street Band und zu seinem Publikum. Und trotzdem treibt das ganze Album freudig vorwärts und wirkt keine Sekunde lang solipsistisch.

Zur zukunftsfreudigen Rückschau passen auch die drei fast 50 Jahre alten Songs, die Springsteen nie zuvor offiziell aufgenommen hat, man erkennt sie leicht am ungebremsten Wortfluss. Warum der „Song for Orphans“ unveröffentlicht blieb, ist leicht nachzuvollziehen: Zu groß ist die Ähnlichkeit zu Dylan-Epen à la „Sad Eyed Lady of the Lowlands“, das wollte sich der Mann, der zu Anfang seiner Karriere als der nächste Bob Dylan ausgerufen worden war, schlicht nicht antun. Nun, mit 71 und frei von Einflussängsten, wirkt Springsteens elegische Hymne an alle, die ihr Leben an den Rock’n’Roll verloren haben, dafür umso eindrücklicher.

Breitbeiniger Sex-Song

Noch besser ist „Janey Needs a Shooter“, 1972 komponiert. Ein breitbeiniger Sex-Song, wie ihn wohl nur ein 23-Jähriger schreiben kann und schreiben sollte. Aber Springsteen und die E Street Band – Little Steven grölt hörbar beim Refrain mit – verwandeln ihn in reine Rock’n’Roll-Energie, und die letzte Minute des Songs ist nicht weniger mitreißend als die besten Livemomente. Wer jetzt nicht wach ist, der muss wohl schon tot sein.