„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist ein erstes Highlight der Berlinale. Die Doku um den deutschen Tennis-Star fasziniert auch Sportmuffel.
Doku über Boris BeckerDas sind die unerwarteten Highlights der Berlinale
Sollten heterosexuelle Schauspieler Menschen anderer sexueller Orientierungen verkörpern? Die in den USA heftig diskutierte Frage lässt sich wohl nur individuell beantworten: an der jeweiligen künstlerischen Ausdruckskraft. Wie leicht scheitern gestandene Hollywoodstars allerdings bereits bei Darstellungen von Menschen aus der Unterschicht.
Jesse Eisenberg verkörpert in „Manodrome“ einen homosexuellen Uber-Fahrer
Jesse Eisenberg ist das jüngste Beispiel als Uber-Fahrer und werdender Vater im amerikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Manodrome“. Bei Anabolika-getriebenen Workout-Exzessen entdeckt und bekämpft er sein homosexuelles Begehren. Und wird zugleich zur leichten Beute eines libertären Menschenfischers (Adrien Brody), der in seiner Villa eine männerbündische Vereinigung unterhält.
Man glaubt dem südafrikanischen Regisseur John Trengove gern, dass er sich nach der Lektüre von Angela Nagles Sachbuch-Bestseller „Die digitale Gegenrevolution“ mit einer treibenden Kraft hinter dem Aufstieg Donald Trumps befassen wollte – der sogenannten „Menosphere“: Rechtsextreme und zugleich frauenfeindliche Männergruppen, die sich traditionellen familiären Rollenbildern verweigern, weil sie sich zu vermeintlich Höherem berufen fühlen. Als homosexueller Filmemacher habe ihn, wie er in Berlin erklärt, die unterdrückte schwule Seite an dieser libertären Bewegung interessiert.
Hollywood bringt weniger Qualität nach Berlin als erhofft
Doch schon von Beginn an beschwert seinen Film jene herablassende Darstellung eines bildungsfernen weißen Proletariats, wie man sie in Hollywood gern als Nährboden für allerhand Übel inszeniert – in jüngster Zeit etwa in Ron Howards „Hillbilly-Elegie“. Trengoves Chronik der Erweckung eines potenziellen Amokläufers rankt sich entlang aufgesetzter Plotpoints – und verliert dabei zusehends auch an politischer Glaubwürdigkeit.
Nichts gegen Genrekino im Festivalwettbewerb – doch hier fehlt jedes Feingefühl. Bereits am zweiten Wettbewerbstag sieht man erste Symptome einer alten Berlinale-Krankheit: Schon unter den früheren Direktoren Moritz de Hadeln und Dieter Kosslick waren immer wieder Hollywoodfilme zweifelhafter Qualität als „Star-Bringer“ ins Programm gehoben worden.
Sean Penns Ukraine-Doku „Superpower“ hat Schwächen
Das gilt noch mehr für Sean Penns Ukraine-Dokumentarfilm „Superpower“. Ein Jahr nach der Eskalation des russischen Angriffskriegs hat der US-amerikanische Filmemacher beendet, was ursprünglich nur ein Porträt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hatte werden sollen. Noch am Tag nach den Angriffen auf Kiew gab dieser seinem prominenten Gast ein kurzes Interview, danach wurden die Dreharbeiten zunächst abgebrochen.
Was schließlich daraus wurde, ist jene Sorte Dokumentarfilm, die man im Fernsehen schon nach ein paar Minuten aufgrund der unerträglichen musikalischen Untermalung und einer forcierenden Dramaturgie abschalten würde. Über weite Strecken zeigt jede zweite Kameraeinstellung Penn, der seine eigene Zeugenschaft mehr als das tragische Geschehen selbst zum Thema macht. Begraben unter guten Absichten liegt ein eigentlich interessantes Projekt, die Annäherung eines politisch engagierten Schauspielers an einen anderen, der einmal angetreten war, die ukrainische Demokratie vor einem Feind im Inneren zu retten, der Korruption. Auch diesen Handlungsfaden verliert Penn über zahlreiche Interviews mit patriotischen Soldaten schnell aus den Augen.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist ein Höhepunkt der Filmfestspiele
Das heißt nicht, dass die aufwändig produzierte Spielart des Dokumentarfilms, wie sie etwa die großen Streamingdienste liebt, nicht auch Qualität hervorbringt. Alex Gibney, einer der produktivsten nicht-fiktionalen Filmemacher, hat sich in „Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ dem Aufstieg vor dem Fall des größten deutschen Tennisspielers gewidmet. Neben Becker selbst kommen nahezu alle seiner prominenten Finalgegner und Manager Ion Tiriac zu Wort, deren Erinnerungen sich zu einer sportpsychologischen Analyse fügen.
Niemand habe sich selbst auf dem Tennisplatz todesmutiger verhalten, niemand sei so schutzlos ins vermeintliche Unglück gelaufen. Auch Becker erweist sich als glänzender Analytiker seiner Gegner, während er sich gleichwohl selbst ein Rätsel scheint. Tatsächlich erklärt sich aus der Analyse seiner größten Spiele offenbar jener radikal-spielerische Charakterzug, der ihn außerhalb des Platzes ins größte Unglück steuern ließ. Wie alle großen Sportdramen gelingt es auch diesem Dokumentarfilm selbst passionierte Sport-Feinde zu faszinieren.
Berlinale zeigt mit „Disco Boy“ das Spielfilmdebüt von Giacomo Abbruzzese
Auch in der Schauspielkunst ist ein Deutscher, der bislang den stärksten Eindruck im Wettbewerb hinterließ. Franz Rogowski spielt in „Disco Boy“, dem fulminanten Spielfilmdebüt des bislang im Dokumentarfilm tätigen Italieners Giacomo Abbruzzese, einen Fremdenlegionär. Seit die französische Regisseurin Claire Denis in ihrem modernen Klassiker „Beau Travail“ bei diesem Sujet einen seltsamen ästhetischen Überschuss im männlichen Körperkult freisetzte, schien das Thema besetzt.
Doch Abruzzese findet einen anderen Weg in dieses irreale Faszinosum. Rogowski verkörpert eine männliche Alice, die es in einer Mischung aus Unschuld und Selbstvergessenheit in ein abgründiges Wunderland treibt. Ein nigerianischer Ölkrieg öffnet die Tür in eine unwirkliche Gegenwelt, die in dem jungen Mann eine unbestimmte Neugier weckt.
Die entscheidenden künstlerischen Impulse bei diesem rauschhaft-rätselhaften, experimentellen Drama stammen von der Bildgestalterin Hélène Louvart und dem elektronischen Musiker Vitalic. Abstrakte Kämpfe entziehen sich mit Wärmekamerabildern dem Auge und finden eine Parallele in delirierenden Szenen in einem Discoschuppen. Dass sich dieser irreale Exotismus nicht politisch auflösen lässt, macht den Film nur noch interessanter.