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„Es musste getan werden“Kölner Ehepaar arbeitete zehn Jahre an Buch über Holocaust

Lesezeit 4 Minuten

Margret und Werner Müller – hinter ihrem gewaltigen Werk.

  1. Obwohl die Nationalsozialisten auf dem Gebiet der Ukraine 1,5 bis 1,6 Millionen Juden ermordeten, ist in Deutschland wenig bis nichts über die deutschen Verbrechen in dem Land bekannt.
  2. Werner und Margret Müller wollen das nicht hinnehmen. In Zusammenarbeit mit einem ukrainischen Historiker haben sie auf mehr als 1100 Seiten Berichte von 215 Überlebenden gesammelt.
  3. Es sind erschütternde Erzählungen über Mord, Hunger und Verfolgung. „Die Erinnerungen handeln immer von der großen Einsamkeit dieser Kinder“, sagt Werner Müller.

Köln – Zehn Jahre alt war Werner Müller, als sein Vater ihn 1946 mit in eine Ausstellung nahm, die die britischen Besatzer organisiert hatten. Zeugnisse aus Konzentrationslagern sollten den Deutschen die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur vor Augen führen.

Sie sahen Schrumpfköpfe, Fotos von Leichenbergen und andere erschütternde Zeugnisse des Holocaust. Werner Müller ließen die Bilder nicht mehr los. Der heute 84-Jährige, der mit seiner Frau Margret in Köln lebt, hat sich sein Leben lang gegen das Vergessen und für die Erinnerung an die Opfer engagiert.

Begegnung mit ukrainischen Überlebenden

Als das Paar 1996 als ehrenamtliche Mitarbeiter des Maximilian-Kolbe-Werkes nach Warschau und Krakau reisten, um dort eine Begegnung von polnischen und ukrainischen Holocaust-Überlebenden zu unterstützten, lernten sie den ukrainischen Historiker Boris Zabarko kennen, der das Ghetto Schargorod überlebt hatte. Seine Berichte und die anderer Überlebender bewegten sie sehr. „Man kann da nicht einfach wegfahren und nichts tun“, sagt Margret Werner.

Das Ehepaar, das vorher keinen Bezug zur Ukraine gehabt hatte, machte die Erfahrung, dass es für die Menschen wichtig war, dass Deutsche sich mit ihren Geschichten auseinandersetzen. „Nie haben wir Ablehnung erfahren“, erinnert sich die 81 Jahre alte Margret Müller.

Ein Kind legt am Denkmal für die ermordeten Juden in Babi Jar Blumen nieder.

Obwohl die Nationalsozialisten und ihre Helfer auf dem Gebiet der Ukraine 1,5 bis 1,6 Millionen Juden ermordeten, ist in Deutschland bis auf das Massaker von Babi Jar, bei dem im September 1941 an zwei Tage mehr als 33 000 Juden getötet wurden, wenig bis nichts über die NS-Verbrechen in der Ukraine bekannt. Und auch in dem Land selbst wurde und wird nicht angemessen an die jüdischen Opfer der deutschen Besatzer gedacht.

Ein Denkmal gesetzt

Diesen Opfern hat das Ehepaar nun in Zusammenarbeit mit Boris Zabarko ein Denkmal gesetzt. Auf mehr als 1100 Seiten haben sie in der Dokumentation „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine“, die sie am Montag im NS-Dokumentationszentrum vorstellten, 215 Berichte von Überlebenden zusammengefügt.

Zabarko hat sie über Jahre gesammelt, Margret und Werner Müller haben sie ins Deutsche übersetzen lassen. Es ist bereits der zweite Band mit Erinnerungen, den sie auf Deutsch herausgeben. Doch anders als in der ersten Publikation „Nur wir haben überlebt“ sind die Berichte hier nicht alphabetisch, sondern nach den Tatorten angeordnet. Diese folgen der Chronologie der Besetzung durch die Wehrmacht. Entstanden ist eine „Geografie des Holocaust“ in der Ukraine.

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Werner Müller, der kein Historiker ist und auch kein Russisch spricht, besorgte sich meist russische Sekundärliteratur über die Orte der Verbrechen, scannte sie ein, übersetzte sie mit dem Google-Translator und ging dann alle Texte noch einmal mit einem Wörterbuch durch. Das Ehepaar ließ zudem Karten zeichnen.

Mehr als 600 Vernichtungsorte waren vor Müllers Recherche bekannt, nun sind es mehr als 1000. Dass anerkannte Historiker wie Wolfram Wette und Wolfgang Benz seiner Arbeit Beachtung schenken, bedeutet Müller viel.

Bewegende Berichte

Es sind bewegende Zeitzeugenberichte, die sie zusammengetragen haben. „Es wurden längst nicht alle Opfer erschossen, manche wurden in Synagogen verbrannt, viele starben an Hunger, an Krankheiten, sind erfroren“, so Müller. Traumatisiert irrten Kinder, die oft ihre gesamte Familie verloren hatten, über Jahre ohne Schutz durch das Land.

Immer auf der Flucht vor den Deutschen und ihren Helfern. „Die Erinnerungen handeln immer von der großen Einsamkeit dieser Kinder“, so Werner Müller. „In meinem Leben gab es keinen lichten Tag“, heißt es etwa in dem Bericht von Rachel Filip.

Zehn Jahre hat Müller, der früher beim Verfassungsschutz arbeitete, an dieser Publikation gearbeitet, 30 000 Euro hat das Paar selbst investiert. 10 000 Euro erhielt es zusätzlich von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Ein Schreiben mit der Bitte um Unterstützung an den deutschen Außenminister Heiko Maas blieb unbeantwortet.

Das Erinnern darf nie enden

„Es musste einfach getan werden“, sagt Müller schlicht, wenn man ihn fragt, warum sich das Paar so für sein Buchprojekt einsetzte. Wie oft habe er schon gehört „Jetzt muss aber auch mal Schluss sein“, wenn es um die Erinnerung an den Holocaust geht.

Für Werner und Margret Müller darf niemals Schluss sein. Die Arbeit an diesem Lebenswerk, wie Werner Müller es nennt, war auch immer ein Wettlauf gegen die Zeit. Erst kürzlich ist ein Freund, der das Massaker von Babi Jar überlebt hatte, gestorben. Doch die Erinnerung an ihn lebt nun weiter.

Boris Zabarko, Margret Müller, Werner Müller (Hg.): „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden“, Metropol-Verlag, 1152 Seiten, 49 Euro.