Week-End-Fest in KölnSo fühlt sich das an, inmitten singender Menschen zu stehen
Köln – Als Gilberto Gil „Aquele abraço“ anstimmt, brechen alle Dämme. Die vorderen Reihen wiegen sich Rhythmus der Samba, singen mit, so laut sie eben können. Das geht ja jetzt endlich wieder. Am Eingang der Stadthalle Köln-Mülheim wurde die Einhaltung der 3G-Regeln streng geprüft, so sorgfältig, dass man zeitweise fast eine Stunde in der Schlange anstehen musste.
Da blieb dann nur, für sich das Mantra des wiederentdeckten afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman zu wiederholen – „Stay on it“, bleib dran! – während die Aufführung des Werkes durch ein achtköpfiges Frauenensemble, mit der die zehnte Auflage des Week-End-Festes den Aufbruch in bessere Zeiten feierte, unweigerlich ohne die draußen Ausharrenden ablief.
Größte brasilianische Community Deutschlands
Der Auftritt des brasilianischen Weltstars versöhnt die Zuspätgekommenen: „Aquele abraço“, das bedeutet „diese Umarmung“ und diese Umarmung erfasste nun wirklich alle in der holzvertäfelten Halle mit dem diskreten Charme der 1960er Jahre, nicht nur Gilberto Gils textsichere Landsleute in Bühnennähe. In Köln und Umgebung lebt die größte brasilianische Community Deutschlands, es ist also fast ein Heimspiel.
Seine allumarmende Liebeserklärung an Rio de Janeiro hat Gil am Aschermittwoch des Jahres 1969 geschrieben, an seinem letzten Tag in der Stadt, kurz nachdem er aus dem Militärgefängnis entlassen wurde, dass im Text ebenfalls großmütig umarmt wird. Die nächsten Monate verbrachte er im Hausarrest in seiner Heimatstadt Salvador da Bahia, dann wurde Gilberto Gil von der Militärdiktatur des Landes verwiesen und flüchtete zusammen mit Caetano Veloso ins Londoner Exil.
Kultureller Kannibalismus
Die beiden Freunde hatten sich den Zorn des autoritären Regimes mit der von ihnen begründeten Kunst-Bewegung des Tropicalismo zugezogen. Sie propagierten eine Art kulturellen Kannibalismus: War nicht bereits die Samba eine wilde transatlantische Mixtur aus den Musikstilen der verschleppten afrikanischen Sklaven und diversen europäischen Einflüssen? Warum also nicht gerade diese Fähigkeit, sich Fremdes hemmungslos einzuverleiben, als Aufruf zur Freiheit feiern?
Die Tropicalisten verdauten „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles zusammen mit João Gilbertos Bossa Nova, auch eine Prise Kölner Avantgarde durchpulste ihre frühen Werke: Rogério Duprat, oft als George Martin des Tropicalismo bezeichnet, hatte bei Karlheinz Stockhausen studiert.
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Gilberto Gil ist stets Tropicalist geblieben, ein Unberechenbarer, gierig alles in sich Aufnehmender. Da täuscht das bescheidene Auftreten des 79-Jährigen mit der sanften, brüchigen Stimme: Ganz in weiß gekleidet, mit der sanften Autorität des Elder Statesman (von 2003 bis 2008 war er Brasiliens Kulturminister), im Kreise einer Band aus jüngeren Familienmitgliedern.
Aber die Musik bleibt, trotz ihrer grundsätzlichen Tiefenentspanntheit, rastlos, Gil covert Bob Marley, verbeugt sich vor Chuck Berry, entwickelt eigene Stücke aus Keith-Richard-Riffs und gewährt mitten in seinem Set der Sängerin Adriana Calcanhotto einen willkommenen Gastauftritt. Auch deren Lieder können die brasilianischen Imis Wort für Wort mitsingen – und zum ersten Mal seit 19 Monaten dürfen sich auch die des Portugiesisch nicht mächtigen wieder in einer Gemeinschaft aufgehoben fühlen.
Mixtapes von Sonny Rollins und Laurie Anderson
Jan Lankisch, der das Week-End-Fest vor zehn Jahren zusammen mit Jörg Waschat aus der Taufe gehoben hat, hat die konzertlose Zeit dazu genutzt, seine Lieblingskünstler um Mixtapes ihrer zehn Lieblingssongs zu bitten (man findet sie unter www.weekendfest.de/mixtape), Gil ist ebenso dabei wie J. Mascis, der jüngst verstorbene Lee „Scratch“ Perry, Burt Bacharach, Sonny Rollins oder Laurie Anderson.
Höchste Qualität, maximaler Eklektizismus: Das macht das Week-End-Fest so besonders. Wo sonst würde auf eine Weltmusik-Ikone eine junge, schroffe Rapperin aus Süd-London folgen, und nicht weniger vom Publikum nicht weniger gefeiert werden: Flohio, bürgerlich Funmi Ohiosumah, spuckt ihre Zeilen salvengleich zu minimalistisch-düsteren Beats aus, wirkt auf der Bühne aber alles andere als unzugänglich. „Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich in echt schüchtern bin“, fragt die schmale Person kokett ins Publikum, das sich zuvor nur allzu bereitwillig von ihr zu Mitmach-Chören animieren lässt. Die Energie im Raum ist so hoch, dass eigentlich Funken sprühen müssten.
Absagen von Mulatu Astatke und Emma-Jean Thackray
Am nächsten Tag folgt die Ernüchterung: Mit dem äthiopischen Jazz-Meister Mulatu Astatke und der englischen Trompeterin Emma-Jean Thackray haben es gleich zwei samstägliche Hauptacts nicht außer Landes geschafft. So leicht lässt sich die Normalität dann doch nicht wiederherstellen. Nun sollen eventuell sogar beide Konzerte in den nächsten Wochen nachgeholt werden.
Es spricht erneut für das Week-End-Publikum, dass die Stadthalle am Samstagabend dennoch gut gefüllt ist, und dass man mit großer Konzentration den künstlichen Klanglandschaften der amerikanischen Synthesizer-Pionierin Suzanne Ciani lauscht. Die 75-Jährige hat sich ihre elektronischen Exkursionen in nicht kartographiertes Gebiet mit Aufträgen für die Industrie querfinanziert, von ihr stammt unter anderem das charakteristische Zischen, das man in der Werbung beim Öffnen einer Cola-Flasche hört.
In Mülheim kann man Ciani dabei zusehen – ihre analogen Verschaltungen werden per Video auf eine Leinwand übertragen – wie sie im Surround-Sound eine außerirdische Samba-Bateria beschwört, als würde man mit Pappkartons gegen Klimaanlagen schlagen, um diese dann wieder in einen allumfassenden Flow münden zu lassen. Ihre Maschinen verströmen Wärme. Die haben wir dringend gebraucht.