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Häusliche QuarantäneDie Welt zieht an uns vorüber wie in einer Zeitmaschine

Lesezeit 4 Minuten

Rod Steiger alias Christian Bos in der H.G. Wells-Verfilmung „Die Zeitmaschine“

Vor gut einer Woche hatte ich angekündigt, zu einer Reise durch mein Reihenhaus anzutreten. Gemäß dem Vorbild des französischen Edelmannes Xavier de Maistre, der Ende des 18. Jahrhunderts einen 42-tägigen Hausarrest zu seiner „Reise um mein Zimmer“ nutzte. Ein schmales, irrwitziges Büchlein, das sich als unwahrscheinlicher Bestseller entpuppte und das so abseitige wie fruchtbare Genre der Zimmerreise begründete.

Passenderweise war die Ankündigung der erste Text, den ich im verordneten Homeoffice schrieb. Und unpassenderweise verwandelte sich das häusliche Büro über Nacht in eine Quarantänestation: Am nächsten Morgen erwachte ich fiebernd und hustend. An Schreiben war nicht zu denken, lesen unmöglich und in die Serie, die so gut wie jeder außer mir gesehen hatte, fand ich einfach nicht herein. Immer, wenn die weibliche Hauptfigur etwas Wichtiges zu verkünden hatte, belferte ein unsensibler Idiot lautstark seinen Auswurf darüber. Der Idiot war ich.

Selbst eine Zimmerreise anzutreten, für die man doch so gut wie keine Voraussetzungen mitbringen muss, schien mir zu viel der Anstrengung. Jenseits meiner Armbeuge nahm ich kaum etwas wahr. Ob ich Blut huste?, wollte die Ärztin am anderen Ende der Leitung wissen. Nein? Dann würde ich auch nicht getestet werden. „Nehmen Sie Hustenlöser und rufen Sie wieder an, wenn es schlimmer wird.“

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Es ist besser geworden, wenn auch nur langsam. Meine freiwillige Quarantäne teile ich jetzt mit Milliarden von Menschen. Milliarden potenzieller Zimmerreisender, in Milliarden Abflughallen der Fantasie. Wir starren auf unsere Bildschirme, verfolgen den rasenden Countdown zum absoluten Stillstand. Oder starren einfach an die Wand, mit dem gleichen Ergebnis.

Ich liege, beharrlich hustend aber testunwürdig, auf der Büffelledercouch, zu viele Bücher im Regal zu meiner Linken, zu viele Bücher an der Wand zu meiner Rechten, eng aneinander gereiht und aufeinander gestapelt. Vorne, am Querbalken vor dem Eingangsbereich, die große, von einem Aluminiumrand umrundete Uhr, die eine Zeit anzeigt, die bedeutungslos geworden ist. Dabei fühle ich mich, als säße ich (oder vielmehr: lümmelte ich mich) in einer Zeitmaschine. Einer ziemlich gemütlichen, nicht unähnlich dem plüschigen Modell, mit dem Rod Taylor in der H.G. Wells-Verfilmung „Die Zeitmaschine“ in die Zukunft reist: halb Einspänner, halb Ohrensessel. Drinnen ist alles unverändert, draußen rast die Sonne ihren Auf- und Untergängen entgegen, und schon bald trägt das hölzerne Mannequin im Schaufenster des gegenüberliegenden Modegeschäftes Kostüme, die unser Zeitreisender nicht mehr versteht.

Den Schaufensterpuppen in Köln und dem Rest der Nation ist gerade eine Ruhepause vergönnt. Aber welche Welt werden wir betreten, wenn wir nach Wochen oder Monaten unsere stationären Raumkapseln wieder verlassen? Es wird auf jeden Fall eine andere sein, schon allein, weil wir andere sein werden, weil uns diese Reise verändert haben wird. In etwa so wie der „Schwarze Tod“, der Mitte des 14. Jahrhunderts Europa heimsuchte, das mittelalterliche Welt- und Selbstbild der Menschen zerstörte und wenigstens indirekt die Renaissance, den Aufstieg des Bürgertums und den Buchdruck einleitete.

Zur Serie

Am Ende des 18. Jahrhunderts nutzte Xavier de Maistre einen 42-tägigen Hausarrest zu einer „Reise um mein Zimmer“ –

und begründete damit ein literarisches Genre. 220 Jahre später sind wir alle Leidensgenossen von de Maistre. Christian Bos begibt sich stellvertretend auf eine Reise um sein Reihenhaus.

Werden wir wieder ins Kino gehen oder uns noch größere Bildschirme anschaffen? Werden wir in Zukunft ein anderes Verhältnis zu Homeoffice und Fernarbeit haben? Ist die Zeit der großen Bürohäuser vorbei? Fördert eine Pandemie den globalen Zusammenhalt oder werden wir uns weiter hinter unsere Grenzen zurückziehen, wie imaginär diese auch sein mögen? Diese außergewöhnliche Zeit, in der wir alle zu Reisen um unsere Zimmer eingeladen sind, wenn wir nicht in Hospitalismus verfallen wollen, oder zu Morlocks degenerieren, die mit Keulen um Klopapier kämpfen, diese außergewöhnliche Zeit ist ein Wurmloch in eine neue Welt.

Ich bin abgeschweift, meine Augen starren noch immer auf die große Uhr, aber sie sehen sie nicht. Xavier de Maistre macht sich in seinem Buch viele Gedanken um seine Seele — heute würde man von „Bewusstsein“ sprechen —, die sich von der Materie, seinem „Tier“, zu lösen vermag. Die sogar „den Weltenraum“ verlässt, um „wie eine Sternschnuppe“ vom Himmel nieder zurück in den Körper zu schießen. Der meinige möchte jetzt ruhen, lauscht dem Prickeln des sich im Wasser verflüchtigenden Hustenlösers, und befiehlt seinen Augenlidern, ein wenig Nacht zu simulieren.