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Harry Styles verzückt in KölnEin Kirchentag der Bisexualität

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Harry Styles in Wien, Fotos vom Kölner Konzert standen noch nicht zur Verfügung  

Köln – Allein schon, wie er das Mikrofonkabel zu führen weiß. Das vordere Ende zur Schlaufe gebunden und fest am Griff gehalten, mit links gelegentlich der langen Schnur einen freundschaftlichen Ruck in Richtung seiner beharrlich ausflippenden Fans gebend. Elegant wie ein Schlagersänger in den 1970er Jahren.

Nein, Harry Styles braucht kein Headset. Er braucht auch keine aufwendig gestaltete Bühne, mit Falltüren und Feuerwerfern. Nur ein halbrundes Podest für die Band, eine große Leinwand für die hinteren Plätze, und einen Laufsteg für sich selbst.

Styles hat seine Lehrjahre im Licht der Öffentlichkeit verbracht, als ein Fünftel der enorm erfolgreichen Boyband One Direction. Jetzt ist er 28 Jahre alt und will kein Popstar mehr sein, sondern ein veritabler Rockgott. Allerdings zu seinen Bedingungen, das heißt: ohne breitbeinige Überwältigungsgesten, dafür mit einem Höchstmaß an Achtsamkeit. Sein Lächeln sagt mehr als zehn Konfettikanonen. Er ist sein eigener Spezialeffekt.

Selbst hinter der Bühne warten Fans

Die Kölner Lanxess-Arena ist seit Monaten ausverkauft. Selbst die Plätze hinter der Bühne sind bis zum Oberrang besetzt. Offensichtlich sind Menschen – na gut, junge Frauen, die wenigen Männer im Publikum arbeiten größtenteils als Security – inzwischen bereit, mehrstellige Summen für die Chance zu zahlen, einen Blick auf die Rückseite des Sängers zu erhaschen. Was soll man sagen? Es ist eine sehr schöne Rückseite, das Geld ist gut investiert.

Die Atmosphäre in der Arena hat sich bereits Stunden vor Konzertbeginn elektrisch aufgeladen. Feuchte Hände verwischen auf Pappschilder geschriebene persönliche Botschaften an den Sänger, pinke Boas verlieren nach und nach ihre Kunstfedern.

Licht aus, Kreisch-Orkan an

Wolf Alice, eine der besten (und letzten) Rockbands Großbritanniens, wird sehr freundlich empfangen. Aber als nach deren Auftritt One Directions unsubtil betitelter „Best Song Ever“ aus der Anlage bläst, verwandelt sich die Halle in eine riesige Karaoke-Party. Auch Queens „Bohemian Rhapsody“ wird enthusiastisch mitgesungen, wie die Nationalhymne einer besseren Welt. Und dann ist es endlich soweit. Licht aus, Kreisch-Orkan an.

Zuerst betritt die sechsköpfige Band die Bühne, in weißen Overalls. Gleich hinter ihr aber nun wirklich Harry Styles. Seine rote Trainingsjacken-Schlaghosen-Kombination ist mit kleinen runden Spiegeln verziert, darunter trägt er ein weißes Feinripp-Unterhemd. Wie ein Zirkusartist nach Feierabend. Oder Las-Vegas-Elvis nach einer Radikaldiät. An jedem anderen Mann sähe dieses Outfit lächerlich aus, und das ist schon Teil des Geheimnisses von Harry Styles.

Styles wirft Kusshände

„Ich könnte ein Ei auf Dir braten“, singt er im Eröffnungsstück „Music For a Sushi Restaurant“ und zwinkert dabei, als meinte er jede einzelne Person, die ihm hier ihren Hals entgegenreckt. Für „Golden“ schnallt er sich eine Gitarre um, das bleibt die Ausnahme, gesanglich wird er von der gesamten Halle unterstützt – nicht, dass er es nötig hätte. Als er zu „Adore You“ – auch hier darf sich jede und jeder gemeint fühlen – wie von allen Alltagssorgen befreit über die Bühne tanzt und Kusshände ins Arenarund wirft, kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr.

„Fühlt euch bitte frei, alles zu sein, was ihr sein wollt“, beschwört Styles: „Das hier wird eine Familienshow!“ Dann fordert er seine neue zehntausendköpfige Familie doch allen Ernstes auf, sich mit erhobenen Armen an den Händen zu fassen und gegenseitiger Unterstützung zu versichern. Hat man seinen Kirchentagsgrusel einmal überwunden ist das tatsächlich ein schönes Gefühl.

Der Trost schöner Männer

Umso bedenkenloser kann man sich in den Softpop von „Daylight“ und „Cinema“ fallen lassen, wie ein Teddybär in die Handtücher der Weichspülerwerbung. „Wunderbar“ lobt Styles den textsicheren Publikumschor zu „Keep Driving“, verteilt im Laufe des Abends immer wieder großzügig Komplimente, gipfelnd in einem kulleräugigen „you are perfect“. Man möchte ihn sofort mit zu sich ins Bett nehmen.

Für die Ballade „Matilda“ greift Styles zur akustischen Gitarre. Das sei ein ganz besonderer Song für ihn, sagt er, und öffnet jeder einzelnen Handylampenschwenkerin in der Arena die Tränenkanäle. Weil es eben auch ein ganz besonders guter Song ist. Ein Troststück für einen Freund in Not, ein Troststück für uns alle. „Harry, you‘re the antidote“ verkündet eines der vielen selbstgemalten Fanschilder. Und das ist er ja wirklich, ein Gegengift in diesen toxischen Zeiten.

Buh-Konzert für bösen Ex-Freund

Er liest auch alle diese Schilder, die drängenden Botschaften, die ihm als Papierflieger entgegensegeln. Spricht persönliche Nachrichten in Handys, leitet ein Geburtstagslied für eine abwesende Großmutter an und ein Buhkonzert für einen bösen Ex-Freund. „Boyfriends“, singt er im passenden Lied, „sie halten dich für selbstverständlich“.

Einen anderen Song hat er einfach direkt „Treat People With Kindness“ genannt und vielleicht besteht Harry Styles größte Kunst ja darin, dass man sich gar nicht erst fragt, warum Selbsthilfebücher jetzt als Rock’n’Roll durchgehen sollen – sondern eher, warum frühere Generationen dachten Sexismus und Sexprotzereien seien irgendwie cool.

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Der Zugabenteil bringt erwartbarerweise die größten Hits: „Sign of the Times“, das erste wirklich große Solostück, „Watermelon Sugar“, seine erste US-Nummer-Eins (Fans halten aufblasbare Wassermelonenstücke hoch, als ginge es hier wirklich um saftige Zitrullengurken), und selbstredend auch „As It Was“, den Welthit dieses Sommers: „Harry, you’re no good alone“ brüllen ihm tausend Mädchen feuchten Auges entgegen und der Star, der nicht gern allein ist, hatte ihnen das Mikrofon längst entgegengehalten.

Am heftigsten verlangen die Fans aber nach einem anderen Stück, das sich auf keinem seiner drei Soloalben findet, das aufgekratzte „Medicine“, ein Hohe Lied der Bisexualität, ein Safe Space fürs eigene Coming-out. Der Subtext früherer Boybands, er wird bei Styles zum Text, zur schillernden Oberfläche. Unter der sich jeder sicher und akzeptiert fühlen darf. Perfekt eben.