Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk prangert in „Freiheitschock“ die Liebe der Ostdeutschen zum Autoritären an - überzieht dabei aber.
Ilko-Sascha KowalczukWo dieser Historiker gedanklich hinschlägt, da wächst kein Gras mehr
Es sei letztlich besser, in einer Diktatur zu leben, anstatt für eine Demokratie zu sterben. Diese (reportierte) Äußerung der Teilnehmerin an einer Friedensdemonstration zum Ukraine-Krieg bezeichnet in Reinkultur eine politische Haltung, die Ilko-Sascha Kowalczuk ablehnt, verachtet, ja man muss wohl schon sagen: hasst: „Nur jemand, der nicht in einer Diktatur gelebt hat oder diese als Diktatur erlebt, kann einen solchen Satz formulieren. Freiheit ist wichtiger als Frieden, weil es ohne Freiheit keinen Frieden geben kann, jedenfalls nicht für alle.“ Bündig gesagt: Der Frieden des Friedhofs ist keiner. Irgendwie fühlt man sich bei so viel bedingungslosem Freiheitspathos sogar an jemanden erinnert, mit dem der Autor sicher nichts am Hut hat: an die spanische Kommunistin Dolores Ibárruri, die legendäre „Pasionaria“, die im Bürgerkrieg ihren Freunden und Feinden entgegenschleuderte: „Lieber stehend sterben, als auf Knien leben.“
In seinem neuen Großessay zieht der Berliner Publizist und Historiker – sein Arbeitsschwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur zeitigte unter anderem eine so monumentale wie weithin anerkannte Biografie des stalinistischen Diktators Walter Ulbricht – die Geschichte des Freiheitsgedankens in den neuen Bundesländern seit 1989 nach. Und kommt dabei, auch angesichts der tatsächlichen oder erwarteten Resultate der aktuellen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, zu ernüchternden und pessimistisch stimmenden Ergebnissen: Freiheit kann verraten und verspielt werden. Das ist in diesen Tagen sicher kein sonderlich origineller Befund, aber die begründungsargumentative Stoßrichtung und nicht zuletzt der Ton des Buches verdienen doch einige Beachtung.
Kowalczuks erklärte Feinde sind das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD auf der anderen Seite
Um mit letzterem anzufangen: Ihn, den Ton, als polemisch zu bezeichnen, ist nahezu eine Untertreibung. Zorn und Wut geben dem Ganzen den Charakter einer hinrichtenden Abrechnung – wo Kowalczuk hinschlägt, da wächst kein Gras mehr. Seine erklärten Feinde sind vorab die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht auf der einen und die AfD auf der anderen Seite – tendenziell übrigens auch deren Wähler. Beide Lager betrachtet er ob ihrer Kreml-Unterstützung, ihrer autoritären Gesellschaftsmodelle und ihres illiberalen Antiamerikanismus als untereinander durchaus koalitionsfähige Schwestern oder Brüder. Da feiert die gute alte Totalitarismustheorie („Rot gleich Braun“) fröhliche Urständ.
Die Tatsache, dass diese Parteien gerade in den neuen Bundesländern so stark sind und ausweislich der Wahlergebnisse inzwischen rund zwei Drittel der Wahlbevölkerung hinter sich versammeln können (was für Kowalczuk nicht bedeutet, dass der bundesrepublikanische Westen nicht auch noch „drankommen“ könnte) – dieses Faktum also führt er indes in historischer Analyse auf das fortwirkende Erbe der Diktatur und die dadurch bedingten mentalen Pathologien der Ostdeutschen zurück: „Antiwestliches Denken, Agitieren und Agieren bleiben natürlich nicht auf Ostdeutschland beschränkt. Es ist hier nur tiefer und breiter in der Gesellschaft verwurzelt.“ Nun weiß auch Kowalczuk, dass die DDR vor 35 Jahren von der geschichtlichen Bühne abtrat und, aus biologischer Notwendigkeit, neue Generationen die alten Kohorten ersetzten. Aber die Vergangenheit, so seine These, lebt in familiären Traditionen und Erzählungen, auch in bestimmten sozialen Milieus fort.
Wenn solche Töne von westdeutschen Historikern, Publizisten und Politikern kommen, stoßen sie – oft zu Recht – auf den Vorwurf typischer Wessi-Ignoranz und -Arroganz. Diese probate Gegenkritik zieht im Fall von Kowalczuk indes nicht – der Autor, Jahrgang 1967, ist ein DDR-Gewächs, das in der Mitte der 80er Jahre mit der Staatsmacht in Konflikt geriet und den „Freiheitsschock“ von 1989 (dies der Haupttitel seines Essays) als den Glücksmoment seiner Biografie erlebte.
Viele seiner Landsleute hätten sich allerdings – so die Linie der Leviten, die er ihnen liest – die anstrengenden Ansprüche, die eine freiheitliche Gesellschaft an ihre Mitglieder richte, nie zu eigen gemacht. Erst von völlig überzogenen Vorstellungen vom westlichen „Paradies“ okkupiert, seien sie, als sie dieses Paradies nicht finden konnten (naheliegend, denn es existiert nicht), in einer Dauerschleife aus Enttäuschung und Verdrossenheit, aus Staats- und Politikfeindschaft bei gleichzeitig unrealistischen Forderungen an die öffentliche Hand gelandet. Betreuungsmentalität statt Selbstaktivierung – auf diese Formel bringt der leidenschaftliche, mit Denkfiguren von Popper und Dahrendorf gerüstete Liberale seine Fundamentalkritik. Dass „Mitostler“, die anders „drauf“ sind, ihn mittlerweile als Verräter und Renegaten ansehen, nimmt er, wie es aussieht, achselzuckend in Kauf.
Wer es überzieht, macht sich angreifbar – dies ist eine Gefahr, der Kowalczuk nicht ganz entgeht
Das alles ist bedenkenswert und erheischt immer wieder Zustimmung. Polemik kann den Blick schärfen und erfrischt zweifellos auch viele Leser. Manchmal mag es richtig sein – frei nach Schillers „Wallenstein“-Vers: „Jetzt ist's Zeit zu lärmen“, – das Florett wegzupacken und den schweren Säbel herauszuholen. Wer es überzieht, macht sich allerdings angreifbar – dies ist eine Gefahr, der Kowalczuk nicht ganz entgeht. Die politischen und ökonomischen Verwerfungen, die die frühere DDR und ihre Bewohner nach 1989 erlebten, legen vielleicht doch etwas mehr Empathie nahe, als sie Kowalczuk aufzubringen vermag. Nicht jeder war schließlich so klug wie der Autor, der sich nach der Wende erfolgreich eine neue Existenz unter neuen Bedingungen aufbauen konnte.
Einige Behauptungen mag man infrage stellen – etwa die These, dass die Revolution in der DDR von einer radikalen Minderheit „gemacht“ wurde, während die überwiegende Mehrheit opportunistisch abgewartet hätte. Ob die dissidente bis oppositionelle Minderheit wirklich so klein war, kann man mit Gründen bezweifeln – die Bildung einer „kritischen Masse“ war auch unter den Rahmenbedingungen des Jahres 1989 (Stichwort: Michail Gorbatschow, den der Autor bezeichnenderweise beharrlich einen „Diktator“ nennt) wohl doch unerlässlich.
Vor allem aber neigt Kowalczuks Freiheitsfuror zu jenem feindbildgenerierenden Schwarz/Weiß-Denken, das er anderen vorwirft. Da bekommt dann sogar der arme Heinrich August Winkler, der renommierteste lebende Historiker der Bundesrepublik, völlig unverdient sein Fett weg. Und ein unbestrittener Trigger für die Veränderung der Parteienlandschaft gerade im Osten – das Migrationsproblem und die einschlägige Debatte – kommt bei Kowalczuk überhaupt nicht vor. Wieso eigentlich nicht? Ob seine Positionen aktuell politikfähig sind, steht ebenfalls dahin. Er warnt die CDU vehement davor, im Osten Bündnisse mit dem autoritären BSW einzugehen. Okay, aber Neinsagen allein reicht nicht. Der Autor hat ein gutes Ablehnungsrecht, dann aber auch die Pflicht darzutun, wie denn eine Regierungsbildung etwa in Thüringen aussehen könnte.
Ilko-Sascha Kowalczuk: „Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute“, C.H. Beck, 240 Seiten, 22 Euro