Compton – Man kann – späte Erkenntnis nach längerem Starren aufs leere Word-Dokument – nicht über Kendrick Lamar schreiben, wenn man Kendrick Lamar hört. Das liegt an den Stimmen, den vielen verschiedenen Stimmen, reflektierend, aggressiv, lispelnd, hochgepresst, in denen der Rapper auf seinem neuen, heiß erwarteten Album „Mr. Morale & the Big Steppers“ unbequeme Wahrheiten verkündet.
Zu denen sich zudem noch ein Karneval aus völlig anderen, überraschenden Stimmen gesellt, die Lamar, der beste Casting Director des Hip-Hop, wie scharfe Schlagschatten einsetzt, um seine hart erkämpften Wahrheiten umso greller erstrahlen zu lassen.
In „Silent Hill“ etwa, Track 12 des aktuellen Albums, lässt Lamar ausgiebig seinen jungen Kollegen Kodak Black aus Südflorida zu Wort kommen, einen gesichtstätowierten Protagonisten des „wahren“ Gangsterlebens, ein schlimmer Finger, durch dessen Karriere sich Vorwürfe sexueller Gewalt und bewaffneter Raubüberfälle ziehen. Er habe keinen Dad, dafür ein Gewehr mit abgesägtem Lauf, rappt Kodak Black vollmundig.
Ein deutscher Selbsthilfe-Guru
Und trifft im darauffolgenden Stück auf die brüchige Stimme des 74-jährigen deutschen Selbsthilfe-Gurus Eckhart Tolle, bekannt aus Oprah Winfreys Talkshow, der von dem Teufelszirkel erzählt, in dem man gefangen ist, solange man sich sein Selbstbild aus den schlechten Dingen bastelt, die einem als Kind widerfahren sind.
Dieser von Generation zu Generation weitergegebene Fluch ist das große Thema der dantesken Ghetto-Komödie, die Kendrick Lamar auf „Mr. Morale & the Big Steppers“ durchwandert. 1855 Tage lang habe er etwas durchgemacht, informiert er uns gleich im ersten Track.
So dicht wie Dostojewski
Was genau, das lässt sich selbstredend nicht in ein, zwei Sätzen sagen. Aber in 73, dicht gedrängten, fiebrigen Minuten. In die pfropft der Künstler aus dem kalifornischen Compton eine derartige Fülle detaillierter Beobachtungen und radikaler Selbstbefragungen, großer Ideen und verzerrter Standpunkte, dass als Vergleichsgröße nur ein Dostojewski-Roman bleibt.
Oder eventuell noch Joni Mitchells ähnlich weitläufiges, experimentelles (und bis heute umstrittenes) Doppelalbum „Don Juan’s Reckless Daughter“. 1855 Tage: Es sind wirklich mehr als fünf Jahre vergangen, seit Kendrick Lamar sein bislang letztes reguläres Album „Damn“ veröffentlicht hat, danach kam noch der „Black Panther“-Soundtrack und gelegentliche Gastauftritte auf den Tracks geschätzter Kollegen. Aber kein großes künstlerisches Statement. Zwei Jahre lang, auch das bekennt Lamar im neuen Album, litt er an einer Schreibblockade.
Hohe Erwartungen nach dem Pulitzerpreis
In den Hundejahren des Hip-Hop sind fünf Jahre eine Ära, neue Stars sind seitdem aufgestiegen und längst wieder untergegangen. Doch die schnelllebigen Zyklen populärer Musik scheinen für den 34-Jährigen nicht mehr zu gelten. „Damn“ wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, als erstes Rap- und auch als erstes Pop-Album überhaupt.
Dass Lamar Hochkultur produziert, daran bestand freilich bereits seit seinem Debüt „Good Kid, m.A.A.d City“, ein Porträt des Künstlers als junger Gangster, kein Zweifel. Man darf das nur nicht missverstehen: Der Rapper hat eben so wenig Interesse daran, die Grenzen seines Genre zu überschreiten, wie Bob Dylan die des seinen. Innerhalb ihres jeweiligen Genres haben beide jedoch die Grenzen des Sagbaren neu definiert.
Abrechnung mit der eigenen Schwulenfeindlichkeit
So berichtet Lamar in „Auntie Diaries“, Track 15, emphatisch von zwei Trans-Personen in seiner unmittelbaren Verwandtschaft: Prompt meldeten sich LGBTQ-Vertreter zu Wort, die falsche Pronomen, den wiederholten Gebrauch eines homophoben Schimpfworts und den Umstand beklagten, dass Lamar nur sich selbst in den Vordergrund stelle, auf Kosten der erwähnten Trans-Personen.
Nur ist das eben exakt das Thema des Songs: Die grassierende Homophobie und Transfeindlichkeit innerhalb der schwarzen Community, erzählt am eigenen Beispiel. Darüber wird in der Tat selten gerappt.
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In „Worldwide Steppers“, Track 3, erzählt Lamar zuerst über seine beiden kleinen Kinder und seinen väterlichen Beschützerinstinkt, das lässt sich leicht nachfühlen, nur um dann mit einer Aufzählung der weißen Frauen, mit denen er geschlafen habe, seine Hörer vor den Kopf zu stoßen (natürlich benutzt er statt „Frauen“ und „geschlafen“ undruckbare Worte).
Ein echter Cringe-Moment. Das soll er auch sein, denn Lamar stellt sich bewusst ins schlechtestmögliche Licht, um den eigenen Sexismus und Rassismus zu exorzieren. Das gelingt ihm erst im vorletzten Track, „Mother I Sober“, einer langen Meditation mit einem zehrenden Refrain von Portisheads Beth Gibbons.
Sexueller Missbrauch und Therapiestunden
Mit zurückgehaltener Energie rappt der Schmerzensmann über sexuellen Missbrauch in seiner Familien, über die eigenen Süchte, über Therapiestunden und den Willen, aus dem Teufelskreis herauszutreten.
Es ist beinahe eine Predigt, allerdings hatte er an anderer Stelle ausgerufen: „Ich bin nicht euer Erlöser“, auch hier folgt er Dylans Spuren. Auf dem Cover indes zeigt er sich mit Dornenkrone, hält seine Tochter im Arm, während seine Verlobte Whitney Alford ihren kleinen Jungen stillt. Eine Familienidylle, wäre da nicht der Revolver, der aus Lamars Hosenbund ragt.
„Mr. Morale & the Big Steppers“ ist bei Universal erschienen. Am 30. Oktober tritt Kendrick Lamar in der Kölner Lanxess-Arena auf