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Streit um Ukrainekrieg auf der phil.CologneHat der Westen unnötig gezündelt?

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Gerald Knaus (l), Julian Nida-Rümelin und Gerd Koenen, diskutieren über Deutschland und den Krieg  

Köln – Was bedeutet die vom Bundeskanzler angesichts des Ukraine-Kriegs ausgerufene „Zeitenwende“ aus philosophischer, genauer: geschichtsphilosophischer Sicht? Gewinnt jetzt, da der Krieg unübersehbar nach Europa zurückkehrt vielleicht ein historisches Kreislaufmodell neue Plausibilität – auch insofern die aktuelle Erfahrung die Idee eines zielorientierten Geschichtsfortschritts aushebelt? Obsiegt also Nietzsche über Hegel?

Diese Frage stand – ohne dass sie hätte schlüssig beantwortet werden können – am Ende der Eröffnungsveranstaltung der phil.Cologne im WDR. Gerald Knaus, österreichischer Migrationsforscher und Soziologe, Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Mitglied im Nationalen Ethikrat, sowie der Kommunismusforscher Gerd Koenen hatten sich auf dem Podium versammelt, um, moderiert von der Philosophin Svenja Flaßpöhler, über das Thema „Deutschland und der Krieg“ zu debattieren. Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, der ebenfalls hätte teilnehmen sollen, war wegen gesundheitlicher Probleme nicht erschienen.

Dergestalt wurde das numerische Gleichgewicht der Positionen etwas gestört. Denn als Mit-Erstunterzeichner von Alice Schwarzers Offenem Brief an Olaf Scholz hätte Merkel als Befürworter einer (vor dem Hintergrund eines andernfalls drohenden Atomkrieges) zurückhaltenden Politik des Westens in Bezug auf Russland und die Ukraine an Nida-Rümelins Seite gestanden. So musste der sich allein gegen zwei Kontrahenten behaupten, die eher für eine harte Gangart gegenüber dem Aggressor Putin (Knaus bezeichnete ihn notorisch als „Gangster“) plädierten.

Gute Gründe konnte jeder vorbringen

Zu hartem Streit führte das allerdings nicht: Gute Gründe können beide Seiten vorbringen, und in die Zukunft sehen weder diese noch jene – Nida-Rümelin bezeichnete zumal die Unberechenbarkeit der Akteure als „Evidenzdesaster“.

An philosophischer Überhöhung mit Hilfe solcher Begriffe mangelte es auf dem Podium auch sonst keineswegs, aber der beachtliche intellektuelle Ornat konnte auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier fundamental neue Erkenntnisse nicht artikuliert wurden.

Angesichts von Putins „Eskalationsdominanz“ fehle, so Nida-Rümelins Kernthese, die in ähnlicher Weise bereits Jürgen Habermas vertritt, der Forderung, dass „die Ukraine siegen“ müsse, das „empirische Fundament“. Im Übrigen habe der Westen „mit unnötigem Zündeln“ und einer „Regime change“-Strategie in der Ukraine sowie ihrer potenziellen Nato-Mitgliedschaft Russland unnötig provoziert. Der dann verjagte Präsident Janukowitsch sei immerhin demokratisch gewählt gewesen. Möglicherweise werde die Ukraine aus diesem Krieg ohne Gebietsabtretungen nicht herauskommen.

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Dieser Auffassung wurde dann doch nachdrücklich widersprochen: Putin werde, so Koenen und Knaus übereinstimmend, mit Gebietsgewinnen nicht zufrieden sein – weshalb auch Verhandlungen mit ihm keinen Sinn hätten. Es sei auch Putin gewesen, der die Ukraine und zumal die junge Generation ihrer Bevölkerung erst nach Westen, in Richtung EU und Nato, getrieben hätte. Jetzt führe er im Zeichen einer großimperialen Ideologie einen „letzten Kolonialkrieg in Europa“, dessen Ziel nicht das Ende einer demokratischen Ukraine sei, sondern die Auslöschung der ukrainischen Staatlichkeit überhaupt. Das Land solle nach Putins Vorstellung, so Koenen, etwas Ähnliches wie das polnische Generalgouvernement der Nazis werden. Deshalb müsse der Westen in der Ukraine zumindest für „Waffengleichheit“ sorgen und das russische Projekt auf diese Weise „frustrieren“.

Ist Kants Idee eines Friedensbundes republikanischer Staaten durch die Erfahrungen, die wir heute machen müssen, widerlegt? Nein, meinte Nida-Rümelin, sie müsse nur realistisch reformuliert werden – unter der Maßgabe, dass eine demokratische Perspektive selbst für Russland nicht ausgeschlossen werden könne.