Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer traf für eine Dokumentation auch die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker.
Kölner OB in Demokratie-Doku„Wer mich umbringen will, der schreibt mir vorher keinen Brief“
Wir bedrohen Kommunalpolitiker so massiv, dass viele ihr Amt hinschmeißen. Wir wählen eine rechtsextreme Partei, wir stören oder verhindern Wahlkampfauftritte, wir verbreiten Hass, Hetze und Unwahrheiten in den Sozialen Medien. „Machen wir unsere Demokratie kaputt?“ - das fragt sich angesichts all dessen die Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer.
Kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ist sie dieser Frage in einer Dokumentation nachgegangen: „Ich bin in der DDR geboren. Ich lebe in der Demokratie, seit ich zehn bin. Ich habe Kinder, die ihr Leben in diesem Land vor sich haben. Ich möchte begreifen, woher die Unzufriedenheit kommt und was auf dem Spiel steht“, sagt sie.
Unter anderem hat sie sich für den Film mit dem parteilosen Dirk Neubauer getroffen, der Bürgermeister in einer Kleinstadt war und seit zwei Jahren Landrat von Mittelsachsen ist. Jetzt kapituliert er vor der ständigen Bedrohung: „Gewisserweise bin ich gescheitert. Und das tut weh“, sagt er und erzählt von dem „unfassbaren Hass, der da wächst. Das hat schon eine Dimension, die ist schwer zu tragen.“ Sichtlich angegriffen sagt er zum Ende des Gesprächs: „Wenn wir nationalistischen Bestrebungen weiter Tür und Tor öffnen, dann werden wir in Schutt und Asche enden. Es ist nicht nur fünf vor 12, es ist zehn nach 12.“
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Auch nach Köln sind Jessy Wellmer und ihr Team gefahren, um mit Oberbürgermeisterin Henriette Reker zu sprechen. Ein Angreifer verletzte sie kurz vor ihrer Wahl im Jahr 2015 lebensbedrohlich mit einem Messer. „Mehrfach im Jahr kommen Kolleginnen und Kollegen zu mir, die selber eine sehr bedrohliche Situation erlebt haben - bis hin zu Körperverletzung - und fragen mich, wie ich das verarbeitet habe“, erzählt sie. „Ich habe gespürt, wohin es führen kann. Erst gehen die Parolen spazieren und dann die Messer“. Viele Menschen würden sich von der Kommunalpolitik abwenden, weil sie sich selbst und ihre Familien nicht in Gefahr bringen wollen. Ihr ist es deswegen wichtig, dass auch Kommunalpolitiker im Wahlkampf geschützt werden – zum Beispiel, durch Polizeistreifen. Auch Henriette Reker wird immer wieder bedroht und geht damit offenbar bemerkenswert cool um: „Ich bekomme immer mal wieder eine Morddrohung. Und ich sage immer: Wer mich umbringen will, der schreibt mir vorher keinen Brief. Der will nur seien Frust loswerden.“
Zusätzlich zu den Gesprächen von Jessy Wellmer hat Infratest Dimap die Deutschen für den Film zu ihrer Meinung über die Demokratie befragt. 59 Prozent glauben, dass man in Deutschland seine Ansichten und Meinungen aussprechen kann, ohne dadurch ernsthafte persönliche Nachteile zu haben. Bei den Anhängern von AfD und BSW sieht das Meinungsbild allerdings anders aus 57 Prozent (BSW) beziehungweise sogar 79 Prozent (AfD) glauben nicht an die Meinungsfreiheit. Auch bei der Frage, ob Sie die Demokratie für eine gute Regierungsform halten, weichen diese Parteien vom Durchschnitt ab. Hier antworten nur 9 Prozent mit „Nein“, bei den Anhängern von AfD sind es 21, beim BSW 17 Prozent.
Seit dem Jahr 2020 finden im sächsischen Zwickau regelmäßig „Montagsdemonstrationen“ statt. „Gerade die Grünen, die AFD und anderen ständig Rassismus unterstellen, sind selbst Rassisten, die gegen die weiße Rasse hetzen“, ruft ein Mann ins Mikro. Jessy Wellmer unterhält sich mit einem älteren Herren, der zu der Demonstration gekommen ist. „Wenn ich schon höre: ‚Wir müssen Russland niederringen‘ – das wollen wir doch gar nicht!“, ruft der empört. Und sagt dann noch: „Dieses Woke und dieses Bunte - das wollen wir nicht, das passt nicht.“ Jessy Wellmer fasst ihre vielen Eindrücke aus den Gesprächen für die Dokumentation so zusammen: „Es sind immer wieder dieselben Themen, die ich höre: Krieg, Corona, Wut auf die da oben und die Ablehnung einer diversen Gesellschaft.“
Auf dem Schlossplatz in Dresden beobachten Jessy Wellmer und ihr Filmteam eine Veranstaltung mit Olaf Scholz. Die „Freien Sachsen“ protestieren gleichzeitig lautstark und haben Plakate mitgebracht, auf denen unter anderem Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Karl Lauterbach in gestreifter Häftlingskleidung zu sehen sind, darüber steht der Spruch: „Schuldig an Volks- und Vaterlandsverrat“.
Mario Meißner ist als ehrenamtlicher Helfer hier und macht sich Sorgen über die Aggression, die Politikern und ihm selbst hier entgegenschlägt: „Es ist unsere ganze Demokratie und Freiheit, die mit auf dem Spiel steht. Das Recht, dass ich mich frei ausleben kann als Jugendlicher“, sagt er. Eine Frau mittleren Alters sieht das ganz anders - in ihren Augen gibt es gar keine Demokratie in Deutschland: „Wo ist denn das Demokratie, wenn hier plötzlich alles verboten wird? Wenn jemand eine andere Meinung als die der Staatsmedien vertritt, ist er ein Nazi, ist er ein Querdenker ist der ein Irgendwas-Leugner.“
Mario Meißner, Henriette Reker, Dirk Neubauer und Jessy Wellmer sind nicht allein mit ihren Sorgen um die Demokratie. Nach der aktuell größte Gefahr für die Demokratie in Deutschland gefragt, antworten 9 Prozent mit „Migration“, 18 Prozent mit „Falsche Politik, Abgehobenheit von Politikern“ und 30 Prozent mit „Rechtsextremismus und Rechtspopulismus“.
Jessy Wellmer, Jahrgang 1979, wurde in Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, geboren. Seit 2014 moderierte sie die „ARD Sportschau“ und das „Sportschau Thema“ sowie Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele und Fußballwelt- und Europameisterschaften. Im vergangenen Jahr lief von ihr eine ARD-Reportage mit dem Titel: „Putin, Russland und wir Ostdeutsche“ über den Blick vieler Ostdeutscher auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Seit Ende Oktober 2023 ist sie eine der beiden Hauptmoderatoren der Tagesthemen. Im Februar erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch „Die neue Entfremdung: Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können“. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
„Machen wir unsere Demokratie kaputt?“ Ein Film von Jessy Wellmer und Dominic Egizzi. Sendetermin: Montag, 26. August, um 20.15 Uhr im Ersten. In der ARD Mediathek ab Freitag, 23. August, um 18 Uhr.