Nach vier Jahren gibt der Klavierentertainer und Wahlkölner Chilly Gonzales endlich wieder zwei Konzerte zum Jahreswechsel in der Philharmonie.
Chilly Gonzales in der Kölner Philharmonie„Wer hat meinen Hintern angefasst?“
Drei Dinge, zählt Chilly Gonzales in der Kölner Philharmonie auf, habe er in der konzertlosen Zeit am meisten vermisst. Die Nummer Drei: Geld. Lachen im Publikum. Obschon genau das ja für beinahe jeden Bühnenschaffenden in den vergangenen Jahren die bittere Realität war.
Nummer Zwei: Frühstücksbüffets in Hotels. „Motherfucking breakfast buffet is back“, ruft Chilly aus. Noch mehr Lacher. Der Pianist und Gelegenheitsrapper steht auf der Treppe zu den oberen Blöcken. Den obligaten Morgenmantel hat er zur letzten Zugabe gegen eine Trainingsjacke getauscht.
Dann verrät er, was ihn am meisten gefehlt habe: „Euch nah zu sein.“ Eine Welle der Rührung schwappt durch den Saal. Es ist, als würden, wie im Burt-Bacharach-Song, plötzlich Singvögel erscheinen und allerliebste Melodien zwitschern. Wir hatten ihn freilich auch sehr vermisst: Das letzte Philharmonie-Konzert zum Jahresausklang – eine schöne Tradition seit 2011 – hatte Chilly Gonzales 2018 gegeben. „Eine völlig andere Zeit“, wie er selbst feststellt. Die allgemeine Gemütsbewegung nutzt er aus, um sich die von der Pandemie geraubte Nähe presto con fuoco zurückzuholen, drängt sich zwischen die Sitzreihen und wirft sich kopfüber der Bühne entgegen.
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Chilly Gonzales wirft sich kopfüber ins Publikum
Näher, sagt Chilly, kann man seinem Publikum nicht kommen. Kalauert, dass das, was er nun vorhabe, in Deutschland eigentlich „Krautsurfing“ heißen müsste – und lässt sich von seinem Publikum die steilen Ränge hinuntertragen. Er hat sogar eigens ein kleines Stück namens „Surfing the Crowd“ komponiert, das er jetzt, von seiner kleinen Band begleitet, sprechsingt, endend im Ausruf: „Who touched my ass? You touched my ass!“ So hatte er es schon einmal gemacht, vor elf Jahren, zum Höhepunkt seines Philharmonie-Debüts (damals sang er zu einer Streichquartett-Version von „Rock You Like a Hurricane“).
Doch jetzt gibt die Aktion ein ganz anderes Bild ab: Wie die Menschen sich mühen und strecken, die Arme recken, von drei Plätzen weiter herbeieilen, Kopf und Rücken des auch nicht leichter gewordenen Entertainers zu stützen, das möchte man mit dem Handy filmen und weiterverschicken, oder noch besser von einem französischen Klassizisten, Jacques-Louis David vielleicht, großformatig in Öl verewigen lassen: „Das Publikum trägt seinen Künstler“, lautete dann der Titel.
Dabei hatte das Konzert so ruhig und verhalten begonnen: Nur von einem funzeligen Spot beleuchtet, spielte Gonzales ein Medley seiner „Solo Piano“-Stücke am Bechstein-Flügel, im gemessenen Tempo. „Das ist mein Lieblingslied“, raunt eine Frau hinter mir ihrer Begleitung zu. Einige Minuten später hat sie sich umentschieden: „Das ist mein Lieblingslied!“
Ofenfrische Stücke aus der Pandemiezeit
Auf diese Weise, mit lauter Lieblingsliedern, hätte es noch lange weitergehen können, bedächtig hätte man diesen scheinbar kinderleichten Stücken gelauscht, sich von deren einnehmenden Pop-Melodien an der Hand nehmen und ins Dickicht der Hochromantik führen lassen. Aber der Wahlkölner hat die Pandemiejahre nicht ungenutzt verstreichen lassen, sondern fleißig komponiert, Tag für Tag, weshalb er seinen Mitbürgern an diesem Mittwochabend ein paar „ofenfrische Banger“ präsentieren will, kleine Weltpremieren unter Nachbarn.
Denen man ihren Entstehungsprozess im Lockdown-Frust durchaus anhören kann: „Catnip“ heißt ein jazziges Stück, zu dem Taylor Savy, alter Weggefährte aus der exilkanadischen Gemeinde Berlins, auf dem Kontrabass improvisiert. Gonzales will es in den Sinn gekommen sein, als er zwei Katzen beobachtete, die sich high von Katzenminze beharkten, er selbst sei dabei ebenfalls berauscht gewesen, von anderem Kraut. So sprunghaft, verspielt und sanft angeschrägt klingt „Catnip“ denn auch.
Zu Savy und den treuen Begleitern Stella LePage am Violoncello und John Fleury am Schlagzeug („Was für ein tolles Wort für drum kit, freut sich Gonzales und erklärt Fleury: „It just means hit stuff“) gesellt sich noch der Violinist Yannick Hiwat. In dieser Besetzung bekommt etwa „Knight Moves“ einen dynamischen Kick, der das Publikum von den Stühlen reißt. Über Hiwat hat ein Kritiker geschrieben, er zeige innerhalb eines Taktes, was Beethoven mit dem früh gestorbenen Hip-Hop-Beatbastler J Dilla verbinde. Das Gleiche könnte man auch von Chilly Gonzales sagen (so lange man Beethoven durch Brahms ersetzt).
Diss-Track gegen Weichspül-Pianisten
Jedenfalls kommt der Rap-Part nicht zu kurz an diesem Abend. Unter anderem auch im Freistil zu Bongos oder stampfenden Pantoffeln – wobei kurz der alte Superschurke Gonzales wieder aufblitzt, der einem stur auf eine imaginäre Eins klatschenden Zuschauer verbietet, jemals wieder öffentlich die Hände zusammenzuschlagen. Am eindrücklichsten rappt Chilly jedoch in einem Diss-Track, auch der eine Premiere, in dem er jenen neo-klassischen Weichspül-Pianisten den Kampf ansagt, mit denen er öfters auf Spotify-Playlists zusammengeworfen wird.
Nein, das kann man sich nun wirklich nicht vorstellen, dass der große Gonzo im Hintergrundrauschen verschwindet. Wir brauchen ihn auf der Bühne, so nah wie möglich.