Köln – Pompös endet Mussorgsky/Ravels Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ – mit der Klangimagination des „Großen Tors von Kiew“. Kiew? Großes Tor? Vor wenigen Jahren noch dachten Konzertbesucher über all das wenig nach. Kiew war irgendeine Stadt in der Ukraine, und das „Große Tor“? Nun ja, es war eben eines der Bilder in besagter Ausstellung.
Diese Einstellung dürfte sich aus nahe liegenden Gründen geändert haben: Kiew ist die Hauptstadt der Ukraine, und das „Große“ oder auch „Goldene Tor“ gibt es als Teil der ursprünglich mittelalterlichen Stadtbefestigung tatsächlich. Es wurde bislang auch noch nicht von russischen Raketen getroffen. Keine Frage: Wer diese Musik in diesen Tagen hört – soeben war sie in der Kölner Philharmonie in einer glanzvollen Aufführung durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu erleben –, der hört sie „anders“ als vor dem 24. Februar 2022, dem Tag von Putins Überfall auf sein Nachbarland.
Der russische Dirigent legte Position in Moskau und Toulouse nieder
Genauso neigt der Hörer in diesen Tagen dazu, zu stutzen, wenn am Dirigentenpult ein Russe auftaucht – in diesem Fall Tugan Sokhiev. Hat er sich nun distanziert oder nicht? Sokhiev hat, wenn auch recht allgemein. Und der hat seine Leitungsposten in Moskau und Toulouse niedergelegt, weil er es unbedingt vermeiden wollte, zwischen „seinen“ russischen und französischen Musikern eine ausschließende Entscheidung zu treffen.
„Das große Tor von Kiew“ ließ er jedenfalls in jenem majestätisch verherrlichenden Glanz erstrahlen, der keinerlei aktuell bedingte Distanz zum Gegenstand erkennen ließ. Überhaupt zogen die „Bilder“ in einer Weise am Publikum vorüber, dass man sich auf jedes neue freuen konnte – auf neue Farben, neue Stimmungen, neue Intensitäten. Auch neue Energien übrigens: Sokhiev gestaltete die Erschöpfung der jeweiligen Satzbewegung derart nachdrücklich, dass der Übergang zum folgenden „Bild“ unausweichlich wurde. Klar, man kennt das alles zur Genüge, hier aber erklang es mit der fesselnden Präsenz des ersten Mals.
Mussorgskys Klavierzyklus nach Bearbeitung von Ravel
Dafür war selbstredend auch die in allen Belangen herausragende Spielqualität der Bayern verantwortlich: Die auffahrende Gewalt des Bässe-Unisonos im „Gnomus“ etwa, die spritzige Bläser-Leichtigkeit des „Balletts der Küchlein“ oder die stampfende Brutalität der „Baba Jaga“ – kann man all das mitreißender, sinnlich packender interpretieren?
Begonnen hatte der Abend mit Debussys legendärem, den musikalischen Impressionismus eröffnenden „Prélude à l’après-midi d’un faune“ und Ravels dreisätziger „Shéhérazade“. Letztere mit der fabelhaften australischen Sängerin Siobhan Stagg, deren lyrischer Sopran über eine schöne, satte Mezzo-Lage verfügt und die ihre vokale Substanz kongenial mit den Orchesterstimmen verband und verschmolz. Sicher, mit François-Xavier Roths „Les siècles“-Formation mag diese Musik noch etwas anders klingen, aber auch hier berückten schwebende Klangbilder (immer wieder exzellent die Sololeistungen, etwa von Flöte und Horn), ein inspiriertes Gleiten durch Sphären und Räume.
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Die „Bilder einer Ausstellung“ strahlten insoweit auf den ersten Programmteil zurück, als sämtliche drei Werke eine französisch-russische Connection markieren: Auch Debussys Faun und Ravels Scheherazade hatten zu tun mit Dhiagilews berühmten Pariser „Ballets Russes“. Wenn Sokhiev sich jetzt veranlasst sah, diese Verbindung für seine eigene Profession aufzugeben – als Gastdirigent des Münchner Orchesters ließ er sie aufs Schönste lebendig werden.