Die Unfähigkeit von Geistlichen, Schuld einzugestehen und zu bereuen, greift den Tiefengehalt der christlichen Lehren an.
Kolumne von Hanns-Josef OrtheilHochwürden flieht in das Vergessen
Ich erinnere mich gut an das kindliche Beichten in den 50er Jahren, das eine ernste Sache war. Im Religionsunterricht wurde es eigens geübt. Dafür gab es einen Beichtspiegel, der die mögliche Sündenpalette bürokratisch abfragte, so dass man die Sünden einstufen und ihr Gewicht abschätzen konnte wie Waren, die an einer Theke gehandelt wurden. Es gab schwere und lässliche Sünden, und es gab Todsünden. Hatte ich oft genug an Gott gedacht? Wenn nein, eher lässliche Sünde. Hatte ich einen begehrlichen Blick auf des Nächsten Weib geworfen? Halbschwer. Hatte ich mich ehrerbietig genug gegenüber Hochwürden verhalten? Wenn nein, schwere Sünde.
Ich frage mich, wie es mir heutzutage als ernsthaftes Kind ginge, wenn diese Fragen noch immer gestellt würden. Sicher würde es mich zunächst einmal interessieren, ob auch Hochwürden den Beichtspiegel durchgeackert hat. Unzucht mit Minderjährigen? Todsünde. Liebloses und autoritäres Verhalten gegenüber Untergebenen? Schwere Sünde. Unaufrichtiges Reden und Verschweigen der Wahrheit im Umgang mit Dokumenten? Schwere Sünde. Da käme in Windeseile einiges zusammen, und ich wüsste schon bald nicht mehr, warum ich als ernsthaftes, gläubiges und gottesfürchtiges Kind Sünden beichten soll, die Hochwürden nicht beichtet.
Ob als Priester, Pfarrer oder als Bischof - viele schweigen selbst nach dem Nachweis schwerster Vergehen und sind nicht fähig, offen darüber zu sprechen, was sie getan und warum sie gesündigt haben. Kein Eingeständnis von Schuld, keine Spur von Reue! Beliebt sind Ausflüchte in das Vergessen. Alles ist anscheinend im Traum oder im Nebel geschehen, und bestimmte Unterschriften unter Briefe oder Dokumente sind durch Geisterhand aufs Papier oder in die heimtückischen digitalen Formate geschlüpft. Dieses Schweigen wäre nach den strengen Grundsätzen früherer Zeiten selbst wieder eine schwere Sünde, insofern angerichteter Schaden nicht wiedergutgemacht, sondern vervielfacht wird.
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Die großen Vergehen, derer sich viele schuldig gemacht haben, sind daher nicht nur Straftaten, sondern betreffen eben auch den Tiefengehalt der christlichen Lehren. Das Beichtsakrament wird unglaubwürdig, wenn es nicht einmal Hochwürden gelingt, sich den Spiegel vor Augen zu halten und die Lippen zu öffnen.
Das alles greift eine Gestalt an, die man in älteren Quellen sogar hier und da noch als „Vater in Gott“ anredete. Diesen Bezug hat die menschliche Gestalt auf dem künstlichen Ehrfurchtsthron so sehr verloren, dass die Gläubigen in Scharen Reißaus vor ihr nehmen, weil sie ihren Anblick nicht mehr ertragen können. Wer möchte noch an einem Gottesdienst teilnehmen, der unter Verdacht steht, von Männern abgehalten zu werden, die ihre Lehren durch ihr Tun und Reden verhöhnen? Inzwischen ist es so weit gekommen, dass die Kirchen leer bleiben, weil die selbstkritischen Fragen nicht mehr gestellt werden, sondern im Brimborium von Amtsdeutsch und Machtausübung untergehen.
Gottesdienste beginnen dagegen oft noch immer mit dem Schuldbekenntnis: „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.“ Was aber, wenn man Hochwürden schon dabei nicht mehr zuhört, geschweige denn an all das glaubt, was er über die Liebe Gottes zu den Sündern in der Predigt zu fantasieren weiß?
Hanns-Josef Ortheil ist Roman- und Sachbuchautor mit einem eigenen Blog. In seiner Kolumne auf ksta.de befasst er sich damit, wie Geschehnisse in aller Welt wahrgenommen und gedeutet werden.
Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.