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Horrorfeen, rosa DrachenMelanie Martinez' Show ist das Verrückteste, was die Kölner Arena je erlebt hat

Lesezeit 4 Minuten
10.10.2024, Köln: Melanie Martinez trägt ein kurzes Rüschenkleid. Mit einer Hand hält sie einen Pfeil fest, der sie dem Anschein nach in die Brust getroffen hat.

Ein kleiner Armor hat die US-Sängerin Melanie Martinez in der Lanxess-Arena abgeschossen.

Die US-Sängerin Melanie Martinez spielt ihre gesamte Karriere in der Lanxess-Arena als Heldenreise bis über den Tod hinaus nach. Unsere Konzertkritik.

Um halb neun geht das Licht aus im Kinderzimmer und die Monster kommen. Die sanfte Melodie einer Spieluhr, unterbrochen von elektrischen Störgeräuschen. Verhallte Trommelschläge wie die Schritte eines Riesen. Vier Gestalten mit überdimensionierten Hasenköpfen betreten die Bühne. Dann ein Schrei aus tausend Kehlen: Im Bühnenhintergrund steht eine winzige Melanie Martinez, schlaflos in einer beängstigend großen Wiege. Sie trägt einen mit Rüschen und Häkeleien verzierten Schlafanzug. Und im Haar, dessen linke Seite brünett, die rechte aber grau gefärbt ist, eine dicke Schleife.

„Sie nennen dich Crybaby, Crybaby, aber das ist dir scheißegal“, singt das vermeintliche Kind. „Dein Herz ist zu groß für deinen Körper, deshalb passt es nicht hinein.“ Tatsächlich steht Martinez auf einer Hebebühne, Wiege und Kinderzimmer sind Bewegtbilder auf einer LED-Wand hinter einem efeubewachsenen Proszeniumbogen, steht man in der Kölner Arena frontal zur Bühne ist die Illusion fast perfekt. Diesen Effekt nutzt die Sängerin im Verlauf der nächsten zwei Stunden immer wieder, denn ihre „Trilogy Tour“ ist kein gewöhnliches Konzert, sondern der Versuch, ihre drei bislang erschienen Alben als die Reise einer Heldin, eben jener bekennenden Heulsuse, zu erzählen, von der Geburt bis zum Leben nach dem Tod.

In der Castingshow „The Voice“ fiel Melanie Martinez zum ersten Mal auf

Eine frühe Kostprobe des Ruhms erlangte Melanie Martinez vor zwölf Jahren in der amerikanischen Castingshow „The Voice“, sie stellte sich der Jury mit Britney Spears „Toxic“ vor. Vor dem Halbfinale schied sie aus, hinterließ aber einen bleibenden Eindruck, gerade weil sie in dem Format – welches Bewerber dafür belohnt, jede Woche jemand anderes zu sein, als sie selbst – eine krasse Fehlbesetzung war.

Ihre erste Single nach eigenen Vorstellungen, „Dollhouse“ singt sie in Köln gleich im Anschluss, das LED-Kinderzimmer weitet sich zum pastelligen Miniaturhaus. „Ich sehe Dinge, die kein anderer sieht“, verrät Martinez. Die perfekte Puppenheim-Fassade verbirgt einen fremdgehenden Vater, eine trinkende Mutter, einen Bruder, der sich in den Drogenrausch flüchtet. Es ist ein Ibsen-Stück für die Tiktok-Generation, die Familie als Petrischale, in der Ängste und Monster gezüchtet werden.

10.10.2024, Köln: Konzert von Melanie Martinez in der Lanxess-Arena.

Melanie Martinez inmitten ihrer Tänzerinnen.

Links und rechts der runden Vorbühne agieren die vier Musiker in Pärchen, fünf Tänzerinnen und ein Tänzer unterstützen Martinez‘ schön-schreckliche Visionen. An denen kann man sich kaum sattsehen, mal fährt die Sängerin auf einem Karussellhasen herauf und herab, mal hängt sie als Marionette an Bändern, wird von ihren Tänzerinnen im Krankenhausbett herumgewirbelt oder singt auf einer hügelgroßen Erdbeertorte.

Dann wieder blasen sich große Kerzen zu einer hysterischen Geburtstagsparty auf, während auf der LED-Wand ein Monchichi-artiges Wesen im Rhythmus mit dem Kopf wackelt. „It’s my party and I cry if I want to“, zitiert Martinez Lesley Gore und in der Tat könnte man sie älteren Generationen als zeitgenössische Reinkarnation des Teenie-Stars aus der Vor-Beatles-Zeit erklären und läge damit nicht falsch.

Als die Fantasiewelt zu Ende ist, ruft Melanie Martinez „Free Palestine“

Gerade Martinez‘ frühe Songs funktionieren auch als Pop-Singles, ihr zweites Album „K-12“ hatte sie bereits zusammen mit einem abendfüllenden Film veröffentlicht. Seitdem muss man sie als Gesamtkunstwerk betrachten – das ihre überwiegend weiblichen Fans bis in den Zuschauerraum verlängern, viele cosplayen in Köln im Anime-affinen Martinez-Stil, ein bisschen Lolita-Babydoll, ein bisschen Pastell-Goth und viktorianische Kindermode.

Aber die 29-Jährige ist ein enfant terrible. „Wenn du mich betrügst, reiße ich dir das Gesicht runter“, droht sie in „High School Sweethearts“. Das rächt sich. Ein Amor schwebt vom Bildrand herein und spannt seinen Bogen, der Liebespfeil trifft die Sängerin tödlich, ein beeindruckender Effekt.

10.10.2024, Köln: Konzert von Melanie Martinez in der Lanxess-Arena.

Melanie Martinez als vieräugige Horrorfee

Plötzlich wabert Nebel über den Bühnenboden, eine Tänzerin und ein Tänzer umgarnen sich im Pas de deux, die Musik dazu könnte Tschaikowski sein, von der Addams-Family interpretiert. Grabsteine und Riesenpilze dekorieren die Bühne und als sich Martinez wieder zeigt, hat sie sich in eine vieräugige Horrorfee verwandelt. „Ich bin zurück von den Toten“, verkündet sie, aber vielleicht ist das bloße Behauptung.

Gibt es ein Leben nach dem Popruhm? Das mag die wirkliche Frage hinter der folgenden Phantasmagorie sein. Die Sängerin tanzt mit Motten, räkelt sich auf einer fetten Schnecke, schlägt einen feuerspeienden rosa Drachen mit dem Schwert. Von Urwaldbäumen hängen vorsintflutliche Handys als Früchte.

Die Schauwerte sind beträchtlich, aber musikalisch wagt sie noch mehr: Hardrock-Zwischenspiele, Orff‘sches Geklöppel, wie man es von Kate Bushs „schwierigem“ Album „The Dreaming“ kennt. So ganz ausgegoren ist diese Hinwendung zum Progrock noch nicht, aber Martinez‘ Mut, ihren eigenen Weg zu gehen, muss man honorieren.

Und der verharrt nicht im Kinderzimmer oder in Alice-im-Wunderland-artigen Zwischenwelten, die Sängerin schreckt auch vor politischen Standpunkten nicht zurück: am Ende der Show rollt sie eine palästinensische Flagge aus, fordert ihr Publikum auf, zusammen mit ihr „Free Palestine“ zu skandieren. Um den jüdischen Juristen und Journalisten Ronen Steinke zu zitieren: „Free Palestine“, diese Parole, die man jetzt oft hört, das ist keine Aufstachelung zu Gewalt. Sondern das ist selbstverständlich zulässig.“ Ebenso selbstverständlich muss man die Positionen seines Lieblings-Popstars nicht teilen. Nur: den Nahost-Konflikt am Ende einer Popkonzertkritik aufzudröseln, dieses Monster möchte man dann doch lieber nicht wecken.