Interview

Denis Scheck im Interview zu „Literatur am Dom“
„Das sind Gipfeltreffen des Geistes“

Lesezeit 6 Minuten
Mariana Leky und Bettina Böttinger sitzen auf einer Bühne, hinter ihnen viel Grün. Vor ihnen schauen die Zuschauer gespannt nach vorne, während Leky aus ihrem Roman „Was man von hier aus sehen kann“ liest.

Mariana Leky und Bettina Böttinger bei Literatur am Dom 2022 in Altenberg

Denis Scheck erzählt uns im Interview, was bei „Literatur am Dom“ auf Altenberg zukommt und was die große Stärke von Literatur ist.

Denis Scheck, Sie kuratieren gemeinsam mit Karin Graf zum dritten Mal das Festival „Literatur am Dom“. Gibt es dieses Jahr einen thematischen Schwerpunkt?

Eigentlich ist es unsere Überzeugung, nicht ein bestimmtes Thema zu setzen, sondern die Vielfalt der Literatur abzubilden. Es gibt ja diesen Spruch, der beschreibt, was man bei einer Hochzeit tragen soll: „Something old, something new, something borrowed, something blue“. So geht es uns auch beim Programm für Literatur am Dom - wir wollen jedem ein Angebot machen. Ganz entscheidend dabei sind unsere kompetenten Moderatoren wie Sabine Küchler oder die literaturbegeisterte Bettina Böttinger, die in Gesprächen mit Judith Herrmann oder Monika Rinck regelmäßig zu Höchstform auflaufen. Das sind wirklich Gipfeltreffen des Geistes.

Das Programm geht in Altenberg also bewusst in die Breite?

Das kann man nur von jedem lernen, der Zirkus oder ein Musikfestival veranstaltet. Es nützt ja nichts, wenn ich hier fünf hermetische Lyriker auftreten lasse, die ich toll finde. Ich hätte keine Probleme, diese fünf Lyriker zu benennen. Aber dafür finden wir in Altenberg nicht unbedingt das Publikum. Also lassen wir zuerst mit Monika Rinck eine unglaublich tolle Textwerkerin zum Zuge kommen, die hier in Köln an der Kunsthochschule für Medien eine Professur hat. Sie hat mich immer als eine Meisterdenkerin beeindruckt, eine große Wortspielerin. Aber danach treffen wir eben auch den Direktor des Archäologischen Parks Pompeji, Gabriel Zuchtriegel.

Denis Scheck über das Programm von Literatur am Dom

Was fasziniert Sie an Gabriel Zuchtriegels Buch über Pompeji?

Ich wollte als kleines Kind Archäologe werden, deshalb habe ich mich immer sehr für Archäologie interessiert. Ich durfte Gabriel Zuchtriegel in Pompeji begegnen und konnte nicht glauben, wie lebendig er über Archäologie reden kann. Er hat ein wunderbares Sachbuch über die Bedeutung von Pompeji für uns heute geschrieben. Das ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich das Alltagsleben von vor 2000 Jahren buchstäblich mit den Händen greifen kann. Die Vernichtung kam so überraschend und so plötzlich, dass noch die Speisen auf dem Teller liegen. Es ist, als würden sie in der Zukunft ein Brauhaus in Köln ausgraben und noch den halven Hahn und das halbvolle Bierglas vorfinden, um sich über die Ernährungsgewohnheiten der Einheimischen Bild zu machen.

Die Autoren, die heute die deutschsprachige Literatur definieren, heißen nicht mehr unbedingt Müller, Meier oder Schmidt mit Nachnamen.
Denis Scheck

Haben Sie auch ein Angebot für junge Leserinnen und Leser?

In Zusammenarbeit mit dem Kulturamt des Rheinisch-Bergischen Kreis bieten wir einen Literaturworkshop mit Andrea Karimé für Schülerinnen und Schüler an. Und der geniale Rafik Schami besitzt die unglaubliche Gabe, frei zu erzählen. Das kann ich jedem ans Herz legen, der einmal erleben will, was diesen berühmten Marktplatz der Gehängten in Marokko ausmacht - also den Charme des orientalischen Geschichtenerzählens. Da steht einer auf und erzählt völlig frei eine Geschichte von derartiger Komplexität und mit sublimen Motiven. Und diesen Charme wird man auch in Altenberg erleben, weil Rafik Schami diese Kunst über die Jahre und Jahrzehnte verfeinert hat, das ist wirklich sensationell.

Rafik Schami stammt aus Syrien, schreibt aber auf Deutsch.

Er musste aus politischen Gründen sein Heimatland verlassen, weil er dort mit dem Tode bedroht war, und kam dann als Student hierher. Er ist ein bedeutender Teil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, genau wie Feridun Zaimoglu, Sasha Marianna Salzmann, Ilija Trojanow, Saša Stanišić. Die Autoren, die heute die deutschsprachige Literatur definieren, heißen nicht mehr unbedingt Müller, Meier oder Schmidt mit Nachnamen, so sehr ich Arno Schmidt und Herta Müller auch schätze.

In der Literaturszene zeigt sich die Vielfalt der Gesellschaft

Zeigt sich in der Literaturszene also auch eine Gesellschaft im Wandel?

Das Beglückende der kulturellen Bereicherung durch Migration können Sie nirgendwo genauer studieren als in der Literatur. Nehmen Sie Terézia Mora, die neben der deutschen auch die ungarische Staatsbürgerschaft hat, aber immer auf Deutsch schreibt, weil sie aus der deutschen Minderheit in Ungarn kommt. Sie hat den Büchner Preis und den Deutschen Buchpreis bekommen. Man kann sie jetzt noch in Altenberg erleben, bevor sie eines Tages in Stockholm den Literaturnobelpreis entgegennehmen wird.

Denis Scheck trägt einen graublauen Anzug und hält ein Mikrofon in der Hand. Er trägt eine runde Brille und hat ein buntes Taschentuch im Revers. Im Hintergrund ein gelbgrünes Banner mit weißem Logo.

Literaturkritiker Denis Scheck bei einer Lesung im Rahmen des Literaturfestivals Literatur am Dom am Altenberger Dom, 2022

Es gibt aber auch Stimmen, die sich gegen die Vielfalt in der Gesellschaft aussprechen. In meinem Umfeld haben viele die Europawahl als ernüchternd empfunden, was den Glauben an Offenheit und Toleranz angeht.

Ich bin mit Günter Grass der Meinung, dass der Fortschritt eine Schnecke ist. Und da gibt es auch immer wieder Rückschläge. Ich bin als kleines Kind noch damit aufgewachsen, dass ein Mieter, den ich sehr sympathisch fand, in unserem Haus Hals über Kopf rausgeschmissen wurde, weil er homosexuell war. Das war im Stuttgart des Jahres 1969/70 ein Grund für eine fristlose Kündigung. 2022 wurde mit Kim de L'Horizon zum ersten Mal eine non-binäre Person mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, das großartige „Blutbuch“ hat den Preis völlig zurecht erhalten. Ich sehe natürlich auch, wo man heute gesellschaftlich noch nicht so weit ist, wie man gerne sein möchte. Aber dass wir überhaupt dafür eine Sensibilität entwickeln, dass wir auf die Idee kommen, über Kolonialismus und Rassismus nachzudenken, die Wirklichkeit etwa aus der Perspektive eines aus der Ukraine Geflüchteten betrachten zu wollen oder eines Menschen mit einer anderen Hautfarbe als die, die wir selbst haben - das ist ein großer Schritt nach vorne.

Denis Scheck will die Literatur zu den Menschen tragen

Ist dieses Einfühlungsvermögen die große Stärke von Literatur?

Für mich ist Literatur ein Bootcamp, indem wir unseren Möglichkeitssinn trainieren. Die Urfrage von Literatur ist ja: Was wäre, wenn? Mit ihr kann man sich um die Weltwahrnehmung anderer Menschen bereichern. Man kann sich in ein Tier, einen Hobbit oder sonst irgendein Wesen hineinversetzen. Literatur ermöglicht es einem, tausend Leben zu führen und trotzdem nur einen Tod sterben zu müssen. Die Begegnung mit ihr kann lebensverändernd sein. Wer das einmal erfahren hat, kann regelrecht süchtig werden. Für mich wäre ein Leben ohne Literatur das schlimmste, wie Einzelhaft, bei denen die eigenen Gedanken nur noch um den eigenen Nabel kreisen.

Literatur ermöglicht es einem, tausend Leben zu führen und trotzdem nur einen Tod sterben zu müssen.
Denis Scheck

Nun haben viele Menschen ja leider nicht immer Zugang zur Welt der Literatur.

Wissen Sie, ich bin ein Produkt der sozialliberalen Koalition. Dass ich aufs Gymnasium gehen durfte, als Erster in meiner Familie, dass ich studieren durfte, das wäre ohne die Aufbruchstimmung und den gesellschaftlichen Fortschritt, der damals diese sozialliberale Koalition Ende der Sechziger prägte, nicht möglich gewesen. Mich hat zum Beispiel unser öffentliches Bibliothekssystem unheimlich geprägt. Das ist wirklich ein ganz niedrigschwelliges Angebot und steht allen Menschen jederzeit offen. Diese Errungenschaften müssten wir feiern, viel mehr betonen und stolz darauf sein, dass wir das anbieten. Aber als ich ein kleines Kind war, waren öffentliche Bibliotheken sexy Orte. Sie verbreiteten Aufbruchstimmung, genau wie die überall aus dem Boden schießenden Freibäder und Hallenbäder. Die waren modern und hip. Ich würde mir ein bisschen mehr bürgerschaftliches Engagement dafür wünschen.

Wie gelingt das Verbreiten dieser Aufbruchstimmung?

Zunächst ganz einfach indem man selbst vorlebt, wie glücklich ein Leben mit Literatur machen kann, wie sinnstiftend sie wirkt, wie sehr sie uns buchstäblich Seelenruhe schenkt – aber auch den Zorn, den man für Veränderungen braucht. Mit dem Festival Literatur am Dom versuchen wir die Literatur dahinzutragen, wo die Menschen sind. Es geht mir darum, so wie in meinen Fernsehsendungen die Literatur hautnah erlebbar zu machen und zu zeigen, dass Literatur im Leben eines jeden Platz finden kann. Und das funktioniert in Altenberg genauso gut wie in Berlin, Wien oder Zürich.

Zur Veranstaltung

Literatur am Dom. 27. bis 30. Juni. Die Veranstaltungen sind als Open-Air-Veranstaltungen geplant und finden im Kräutergarten des des Küchenhofs Altenberg statt (Carl-Mosterts-Straße 1, 51519 Odenthal). Alle Informationen gibt es hier.

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