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Musikgenies der SixtiesWie Paul McCartney und Brian Wilson einander antrieben

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Paul McCartney

Köln – Als Paul McCartney mit den Beatles im Februar 1964 dreimal hintereinander in der Ed Sullivan Show auftritt, kann Brian Wilson mit seinen Beach Boys schon vier Top-Ten-Hits in den US-Charts vorweisen. Aber als er die vier Freunde aus Liverpool im Fernsehen sieht, weiß Wilson sofort, „dass sich alles verändert hat“. „Ich bin fast umgekippt“, wird der Kalifornier später sagen. „Es war, als ob ein Schock durch mein System geht.“

Beach Boys und Beatles trieben einander auf den Mond

Es ist der Beginn einer wunderbaren, nun ja, nicht gerade Freundschaft, aber doch einer freundschaftlichen Konkurrenz zwischen McCartney und Wilson. Und nicht unähnlich der Dynamik des „Space Race“ zwischen den USA und der UDSSR, an deren Ende sich die Menschheit verwundert auf der Mondoberfläche wiederfand, trieb das Wettrennen zwischen Beatle und Beach Boy die Popmusik in Schwindel erregende Höhen, die zu Anfang des Jahrzehnts noch völlig utopisch schienen.

Jetzt werden die beiden amtlich verbrieften Musikgenies der 1960er Jahre 80 Jahre alt – Paul McCartney am 18. Juni, Brian Wilson zwei Tage darauf – und wir wollen aus diesem Anlass noch einmal erzählen, wie sich dieses seltsame, weil grundverschiedene Paar gegenseitig beeinflusst und angestachelt hat.

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Brian Wilson vor fünf Jahren

Für seinen nächsten Aufnahmetermin nach der britischen Invasion bucht Wilson die Wrecking Crew, die legendäre Gruppe von L.A.-Studiomusikern, die auch auf Phil Spectors 60er-Jahre-Singles zu hören sind. Zu spielen gibt er ihnen „I Get Around“ seinen bis dato komplexesten und zugleich dynamischsten Song. Es wird nicht nur die erste Nummer Eins der Beach Boys, sie sind auch die erste amerikanische Band, die es nach acht Monaten englischer Dominanz wieder an die Spitze der US-Charts geschafft haben.

Ungefähr zur gleichen Zeit entdecken beide Bands auch die kontemplativen Freuden des Marihuana-Rauchens, dementsprechend spiegelt sich ihre musikalische Entwicklung: Auf Wilsons „The Warmth of the Sun“ folgt McCartneys „I’ll Follow the Sun“, und während sich Wilson in „She Knows Me Too Well“ noch der Illusion hingibt, seine Freundin werde ihn niemals verlassen, egal wie schlecht er sie behandelt, trauert McCartney der seinen in „Yesterday“ auf unvergessliche Weise hinterher. Die Arrangements und Akkordfolgen scheinen Lichtjahre von den simplen Anfängen mit „Surfin’ U.S.A.“ oder „Please Please Me“ entfernt, die Wachstumsschübe sind enorm.

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Mit „The Beach Boys Today!“ legt Brian Wilson Anfang ’65 das erste Album vor, das mehr ist als nur eine Sammlung alter Singles und B-Seiten, vor allem die zweite Seite, ein Song-Zyklus aus fünf Balladen, erschließt Neuland. Doch die wirkliche Pioniertat gelingt den Beatles am Ende des gleichen Jahres mit „Rubber Soul“. Selbst in der Streaming-Ära hält sich hartnäckig die Idee vom Album als in sich geschlossenes künstlerisches Statement: „Rubber Soul“ ist der Sputnik dieser neuen Kunstform. Kaum hat Brian Wilson es gehört, setzt er sich sofort an sein Klavier und komponiert mit „God Only Knows“ den sublimsten Pop-Song aller Zeiten. Paul McCartney nennt ihn bis heute sein Lieblingslied.

Aber Wilsons Ehrgeiz reicht noch weiter: Mit „Pet Sounds“ reizt er Phil Spectors Idee vom Studio als eigentlichem Instrument des Pop bis ins Letzte aus, die Arbeit nimmt Monate in Anspruch, nie zuvor hat man ausgefeiltere Arrangements und originelle Instrumentierungen auf einer Pop-Platte gehört.

Der Produzent Lou Adler fliegt mit einer Testpressung von „Pet Sounds“ nach London und spielt sie John Lennon und Paul McCartney vor, die machen sich sofort Notizen. „Oh Gott, das ist das beste Album aller Zeiten“, denkt sich McCartney. „Was sollen wir jetzt bloß machen?“ Die Studio-Sessions zu „Revolver“ sind fast abgeschlossen, unter dem Eindruck von „Pet Sounds“ schreibt McCartney noch die Beach-Boys-Hommage „Here, There and Everywhere“. Für den Moment scheint aber Wilson die Nase vorn zu haben: Die nächste Beach-Boys-Single „Good Vibrations“ übertrifft an Verzwickt- und Ausgeflipptheit (und Budget) alles Dagewesene und ist dennoch so zugänglich, dass sie sofort an die Spitze der US- wie der UK-Charts steigt. Gleichwohl soll sie nur Vorbote eines Magnum Opus namens „Smile“ sein.

Wilson wird erratisch, McCartney bleibt der Welt zugewandt

Inzwischen teilen sich Beatles und Beach Boys mit Derek Taylor einen Publizisten, wenn McCartney in Los Angeles ist (Wilson hat Flugangst und reist nicht), besucht er Wilson im Studio. Zum Beach-Boys-Stück „Vegetables“ steuert er die Rhythmusspur bei, in dem er laut schmatzend auf Sellerie und Karotten kaut.

Doch Wilson verhält sich zunehmend erratisch. Wo McCartney sich auf seine drei Freunde und sein der Welt zugewandtes Wesen stützen kann, ist er isoliert, auch innerhalb der eigenen Band. Als er „Strawberry Fields Forever/ Penny Lane“, die Doppelsingle aus den „Sgt. Pepper“-Sessions im Radio hört, muss er rechts ranfahren. „Das, was ich mit Smile machen wollte, haben sie schon gemacht“, klagt er gegenüber seinem Mitfahrer. „Vielleicht ist es zu spät.“ Er bricht die Aufnahmen ab, seine nächsten Jahrzehnte sind ein Martyrium aus Drogen, Depressionen, Schocktherapien.

Den Epilog kann der Autor aus eigener Anschauung berichten: Als ein hochnervöser Brian Wilson im Februar 2004 in der Londoner Royal Festival Hall sein unbekanntes Meisterwerk „Smile“ zum ersten Mal live der Öffentlichkeit vorstellt, huscht ein Mann durchs Parkett, nachdem alle anderen Zuschauer längst ihre Plätze eingenommen haben. In einer vorderen Reihe dreht sich der Beatles-Produzent George Martin um, lacht und winkt ihn herbei. Jetzt hat Paul McCartney endlich seinen Platz gefunden – und vielleicht sind erst in diesem Moment die Sixties wirklich vorbei.