Nach heftigen ProtestenWie gelungen ist der neue Film von Regisseur Roman Polanski?
Selten besaß eine Schlagzeile ein so geschichtsträchtiges Gewicht wie Émile Zolas „J’Accuse“ – „Ich klage an“ –, das er dem Präsidenten der Französischen Republik, Félix Faure, am 13. Januar 1898 entgegenschleuderte. Der Artikel erschien als offener Brief auf der Titelseite der Tageszeitung „L’Aurore“, und wenn er auch ans höchste Staatsamt adressiert war, so betraf er doch die ganze Nation: Sein Anlass war die Affäre um den Hauptmann Alfred Dreyfus, der vier Jahre zuvor als angeblicher Spion für das Deutsche Reich zu lebenslanger Verbannung auf der Teufelsinsel verurteilt worden war. Doch die Kritik, die Zola am Justizverfahren übte, ging weit darüber hinaus. Sie zielte auf den verbreiteten Antisemitismus der französischen Gesellschaft, den der Schriftsteller als die wahre Ursache für die Bestrafung des elsässischen Juden Dreyfus geltend machte.
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„J’Accuse“ benennt nun auch Roman Polanski seinen neuen, seinen 22. Spielfilm (der deutsche Verleih gibt ihm den Titel „Intrige“, der den historischen Resonanzraum leider verfehlt, auch wenn er den Roman von Polanskis Ko-Autor Robert Harris zitiert). Die Einladung in den Wettbewerb von Venedig und die nachfolgende Premierenvorführung in Paris provozierten heftige Proteste, weil Polanski nicht allein der Missbrauch einer Minderjährigen Anfang der 70er Jahre anhängt, sondern auch neue Vergewaltigungsvorwürfe aufkamen. Doch die Vergangenheit des mittlerweile 86-jährigen ist das eine – auf einem anderen Blatt steht seine Leistung als Künstler, und hier schlägt „J’Accuse“ ästhetisch gewaltig zu Buche, nicht minder aber als moralisches Fanal.
Denn weit davon entfernt, als Lehrstück in Geschichtsbüchern abgelegt werden zu können, ragt die Dreyfus-Affäre hinein in die heutige Zeit mit ihrem Wiedererstarken von Denunziation und Antisemitismus. Zola war Ende des 19. Jahrhunderts nicht der einzige Autor, der den Justizskandal publizistisch begleitete. Der österreichische Journalist Theodor Herzl verfasste als unmittelbare Reaktion auf die Affäre sein Buch „Der Judenstaat“, das zur Gründungsurkunde des modernen Zionismus avancierte. Polanski nun begreift diese Jahre als Kulminationspunkt gesellschaftlicher Zerwürfnisse, deren Mechanismen er wie unterm Brennglas untersucht.
Ein Kernmotiv von „J’Accuse“ sind die Kräfteverhältnisse innerhalb einer autoritär gepolten Gruppe, die in der fieberhaften Suche nach einem Sündenbock und in der Sehnsucht nach Korpsgeist einerseits und andererseits nach Ab- und Ausgrenzung münden. Das wird bereits zum wuchtigen Auftakt des Films deutlich, der von der Degradierung des Hauptmanns erzählt: Hier die Hundertschaften der Soldaten, die wie zu einem einzigen, massiven Körper verdichtet auf dem Hof der Pariser École militaire strammstehen – dort der als Verräter gebrandmarkte Dreyfus, dessen Säbel zerbrochen wird, nachdem man ihm die Epauletten von der Uniform gerissen hat. Ein Mann, dessen soldatisches Ethos ihm verbietet, aus der Rolle zu fallen, und der doch das innere Beben nicht ganz verbergen kann, als er auf dem Höhepunkt der schändlichen Zeremonie gezwungen wird, die Reihen der einstigen Kameraden abzuschreiten.
Ein zweiter Aufsteiger in der militärischen Hierarchie wird im Laufe der Geschehnisse aus dem Zentrum der Macht heraustreten und zum Außenseiter werden, getrieben von seinem Gewissen, das er gegen alle Karriereinstinkte nicht zu unterdrücken vermag – in Zeiten von Wikileaks würde man einen wie Oberst Marie-Georges Picquart vielleicht als Whistleblower bezeichnen. Ein bis in die Schnurrbartspitzen durchgestriegelter und disziplinierter Jean Dujardin in der beeindruckendsten Rolle seiner Laufbahn spielt diesen Mustersoldaten, dem die Leitung des militärischen Auslandsgeheimdienstes übertragen wird – wie ernst es die Armee mit der Aufklärung schmutziger Details meint, verrät bereits das staubige, knarzende Amtsgebäude, in dessen Stuben der Dienst nach Vorschrift die Befehlsgewalt innehat. Bevor sich Picquart mit Dreyfus beschäftigen kann, muss er buchstäblich erst einmal aufräumen.
Das Offizierscasino mit seinen Amüsierdamen, als Requisiten unumschränkter Männlichkeit und Soldatenherrlichkeit zur Stelle wie Cognac und teure Zigarren; die Paläste, in denen sich die Heerführer fühlen dürfen wie Potentaten und die ihnen gleichzeitig als fein herausgeputzte Wohnzimmer dienen – Polanski ruft das Milieu dieser Militäraristokratie, die sich mit ihrem aufgeblähten und selbstgefälligen Apparat als zweiter Staat breit macht, ebenso sorgsam und detailgenau herauf wie das Paris des Fin de Siècle.
Als Regisseur profiliert er sich in „J’Accuse“ als stiller Beobachter, ja, als Erforscher einer Epoche, die mit ihrem Standesdünkel und ihrer Vorliebe für streng geschnittene, aber farbenfrohe Uniformen schon am Ende des 19. Jahrhunderts hoffnungslos antiquiert wirkt – die aber gleichzeitig schon unterwegs zu den Ideologien und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ist, indem die Eliten ihr giftiges Spiel mit Ressentiments und Nationalismus treiben.
Der Film
Frankreich 2019, 132 M., R Roman Polanski, D Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner
Ein Musterbeispiel historischen Erzählens, das sich der Aktualität der antisemitischen Dreyfus-Affäre auf überzeugende Weise bewusst ist.
Wie sehr sich Polanski mit der Rolle des detektivischen Spurensuchers identifiziert, verrät die Leidenschaft, mit der er Mathieu Amalric in der Rolle eines zweifelhaften Handschriftenexperten in Schriftstücken wühlen lässt, wie akribisch er aus Papierfetzen Dokumente rekonstruiert, wie aus dem Schmutz der Geschichte lupenreine Beweise erstehen, die Zug um Zug die Unschuld Dreyfus’ beweisen.
Dabei behält der Film stets den Überblick über die Affäre, die verschachtelt war und überall in düstere Ecken führte, ohne jemals an Spannung einzubüßen. Der Fall Dreyfus war eben auch ein Kriminalfall, ein Stück staatlicher Verbrechensgeschichte, das überdies in ein Gerichtsdrama mündet und eine Fülle von Ansätzen für investigative Recherche bietet. All das breitet Polanski mit großer Bedachtsamkeit aus – „J’Accuse“ ist geradezu ein Musterbeispiel historischen Erzählens, das sich seiner Aktualität bewusst ist, was die Rolle der Medien, in diesem Falle der Presse, betrifft, aber auch, was die Verschleierung der Wahrheit durch die Bastionen der Macht angeht, die sich in der eigenen Unangreifbarkeit sonnen.
Hier ist niemand ein wirklicher Held, weder Picquart, der den Juden Dreyfus im Grunde seines Herzens verabscheut, noch der Hauptmann selbst, der alles stoisch erträgt. Nicht zuletzt die Fehlbarkeit der Protagonisten aber ist es, die zur Wahrhaftigkeit beiträgt.