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Romanerfolg „Treue“Warum man Hernan Diaz nicht alles glauben darf

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Autor Hernan Diaz

New York – „Treue“ ist Hernan Diaz zweiter Roman. Bereits „In der Ferne“, das Debüt des Amerikaners mit argentinischen Wurzeln, war auf der Shortlist des Pulitzerpreises gelandet. „Treue“ erhielt in den USA und Großbritannien enthusiastische Kritiken und ist für den Booker-Preis nominiert.

Nur warum lässt Diaz sein Buch dann mit einem ganz anderen Roman beginnen, nämlich Harold Vanners Ende der 1930er Jahre erschienenen „Verpflichtungen“? Und haben wir es bei diesen etwa mit einem vergessenen (rein fiktiven) Klassiker zu tun? Schon der erste Satz erzählt im selbstbewussten Parlando alles, was man zur ganz speziellen Tragik reich Geborener wissen muss: „Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt.“

Der Ton erinnert an andere, bekanntere Porträtisten des Ostküstenadels. Etwa an Edith Whartons Bild von der vorgezeichneten Zukunft des Vermögenden, in der dieser die schwindende Gestalt eines Mannes erkennt, dem nie etwas geschehen wird. Oder an F. Scott Fitzgeralds Feststellung, die Superreichen seien anders als du und ich: Weich, wo wir hart, zynisch, wo wir vertrauensvoll sind.

Geld eröffnet neuen Zugang

Die nächsten Seiten halten, was der Anfang verspricht, vor allem wenn Vanners in sich versunkener, allein von der mathematisch auszuklügelnden Vermehrung seines Geldes faszinierter Antiheld Rask sein perfektes Gegenstück in einer jungen Frau aus guter Familie trifft, „deren Vermögen nicht mit ihrem Namen Schritt gehalten hatte“. Helen Breevorts analytischer Verstand kann mit Rasks locker Schritt halten, und auch sie hat sich vor dem Geschwätz der Salons unter eine Art Glassturz geflüchtet. Doch das Geld ihres Mannes eröffnet einen neuen Zugang zur Gesellschaft: Als Mäzenin von erlesenem Geschmack versammelt sie die interessantesten Künstler der Zeit um sich, vor allem die Musik hat es ihr angetan. Gerade ihre Gleichgültigkeit gegenüber der New Yorker Society lässt das Ehepaar Rask zu „wahren Fabelwesen“ werden.

Der legendäre Ruf endet jäh mit dem Börsencrash: Nein, Benjamin Rask hat sich nicht ruiniert, er ist als einziger Großfinanzier mit Gewinn aus dem Schwarzen Freitag hervorgegangen. Was jedoch zum gesellschaftlichen Aus des Paares führt, nicht der ärmste Avantgardist will noch das Geld der Krisengewinnler. Helen endet jämmerlich in einem Schweizer Sanatorium, der Wahnsinn ihres Vaters hat sie eingeholt.

Ein detektivisches Lesevergnügen

Woraufhin Vanners Roman, relativ abrupt, nach 130 Seiten, abbricht. Es folgen die im direkten Vergleich äußerst hüftsteif formulierten Lebenserinnerungen eines anderen Finanziers namens Andrew Bevel. Die sind offensichtlich jedoch nicht über einen ersten Entwurf hinausgekommen, ganze Passagen fehlen und sind nur durch Platzhalter wie „Mehr über Mutter“ oder „Die Jungs. Heitere Anekdoten“ vertreten.

Langsam geht dem Leser auf, dass Bevel das reale Vorbild für Benjamin Rask war und dessen Frau Mildred dasjenige Helens. Und dieser zweite Text dem ersten korrigierend antwortet. Jetzt wird es richtig spannend, ein detektivisches Lesevergnügen. Auch in Bevels eigener Version stirbt die Ehefrau in einer Schweizer Klinik, diesmal allerdings an einem, körperlichen Gebrechen. Das letzte Kapitel der unfertigen Memoiren widmet sich indes nicht ihr, sondern dient allein der Rechtfertigung von Bevels gewinnträchtigen Operationen während des 1929er-Börsencrashs.

In fünf Worten: „Der Markt hat immer recht.“

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Eine aufgebrachte Menschenmenge stürmt die New Yorker American Union Bank zu Anfang der Großen Depression.

Die dritte Stimme, die uns in „Treue“ begegnet, gehört einer rund 70-jährigen italoamerikanischen Autorin namens Ida Partenza: Was die Tochter eines anarchistischen Druckers von ihren beinahe unfreiwilligen Schriftstellerinnen-Anfängen zu erzählen hat, wirft nun wieder ein völlig anderes Licht auf die Handlungen von Andrew Bevel und erst recht auf dessen Frau. Und erinnert die Beziehung zwischen Ida und ihrem Vater nicht an diejenige zwischen Harold Vanners tragischer Heldin und deren psychisch labilem Vater?

Die aufschlussreichen Einzelheiten findet man am besten für sich selbst heraus, denn die Art und Weise, mit der Hernan Diaz seine Geschichte in den Köpfen seiner Leserinnen und Leser zusammenpuzzelt, ist der größte Spaß dieses literarischen Quartetts aus vier Büchern.

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Freilich nicht der Einzige, denn „Treue“ ist so viel mehr als eine bloße Fingerübung, auch wenn die Vollständigkeit, mit welcher Hernan Diaz hinter seinen unzuverlässigen Erzählern verschwindet, höchste bauchrednerische Handwerkskunst verrät. Noch beeindruckender ist nur, wie Diaz’ seine Erzähler um ihre eigenen blinden Flecken kreisen lässt. Selbst Ida Partenza, die mit Abstand sympathischste Figur des Romans, baut sich eine Karriere auf, indem sie einer wehrlosen Toten Worte in den Mund legt.

Bevor man dem Autor einen ähnlichen Vorwurf machen könnte, präsentiert er als viertes Buch die Tagebucheinträge der sterbenden Milliardärsgattin. Und dreht die ganze Geschichte so noch einmal feministisch auf links. „Treue“ endet spektakulär, aber auch mit ernüchternden Erkenntnissen über die doppelte Fiktion des Geldes und seiner Geschichte. Und selbstredend spiegeln die widersprüchlichen Erzählungen der 1930er die Lügen unserer eigenen Zeit.