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Neues AlbumWarum The Notwist nach 32 Jahren wie neugeboren klingen

Lesezeit 4 Minuten

The Notwist

Weilheim in Oberbayern – Die Band The Notwist – im Kern die Brüder Markus und Micha Acher aus dem oberbayerischen Weilheim – ist so alt wie das wiedervereinigte Deutschland. Und während das weiterhin seine liebe Mühe damit hat, zusammenzuwachsen, zeigen The Notwist, wie man durch Vervielfältigung und offene Strukturen künstlerisch nicht nur überleben, sondern sogar immer weiter wachsen kann – und so dem Rolling-Stones-Schicksal des untoten Dauertourens entgeht.

Diesen Freitag erscheint mit „Vertigo Days“ das achte Studioalbum der Weilheimer, das letzte, „Close to the Glass“, ist nun auch schon fast sieben Jahre alt. Das ist in Popjahren ein geradezu geologischer Zeitraum, aber die Acher-Brüder waren keineswegs untätig: Sie haben Nebenbands wie Spirit Fest, Alien Ensemble oder Joasihno gegründet beziehungsweise weiterverfolgt, sind als rein akustische „Hochzeitskapelle“ in Wirtshäusern, an der Isar und auf Demonstrationen mit gecoverten Lieblingsliedern aufgetreten, haben fleißig Kontakte ins Ausland geknüpft, hauptsächlich nach Japan, haben ein Plattenlabel betrieben, ein jährliches Festival ins Leben gerufen und Filmmusiken komponiert.

Irgendwie und irgendwo kann man all diesen Umwegen und Einflüssen auf dem neuen Notwist-Album nachlauschen, letztlich stehen sie aber vor allem für das Luxusgut unserer pandemischen Tage: die wunderbare Macht der menschlichen Begegnung.

Zu Band und Album

Die Brüder Markus und Micha Acher haben The Notwist im Jahr 1989 in Weilheim in Oberbayern als Hardcore-Band gegründet. Nach wenigen Alben änderten sie ihren Sound radikal, kombinierten Indie-Pop mit Elektronik und den offenen Strukturen, die sie als Jazz-Musiker gelernt hatten. Mit „Neon Golden“ aus dem Jahr 2002 wurden sie dann auch international bekannt.

„Vertigo Days“ erscheint diesen Freitag bei Morr Music.

„Vertigo Days“ beginnt mit einem voodooartigen Getrommel, Vinylgeknister, Radiofetzen und geisterhaften Rufen, also mit einer Beschwörungsformel, wie man sie häufig auf alten Free-Jazz-Platten findet.

Doch dann setzt in „Into Love/Stars“ Markus Achers schüchterne Regenwetterstimme ein, singt von stürzenden Sternen, verschlungenen Straßen, aufwärts strömendem Regen und davon, dass einen das Wissen um den folgenden Schmerz nicht davon abhält, sich immer wieder zu verlieben.

Man wähnt sich also nicht zu Unrecht auf jenem altbekanntem Pop-Terrain – Pop im Sinne von Talk Talk, nicht Britney Spears –, wie es die Band zu Anfang des Jahrtausends in ihrem Durchbruch-Album „Neon Golden“ abgezirkelt hat: melancholisch, elektronisch und sehr, sehr melodisch.

Auf jeden Fall sind The Notwist wieder zum warmen, analogen Klangbild von 2002 zurückgekehrt, und ein Lied wie „Sans Soleil“ könnte direkt aus jenen neongoldenen Tagen stammen.

Sonst aber ist fast alles anders. Wo einst Studentenradio-freundliche Indie-Songs (und ganz früher mal schlagkräftige Hardcore-Klagen) die Hörer umschmeichelten, gehen die Stücke heute nahtlos ineinander über, ja, oft schlagen sie innerhalb ihres Rahmens die viel überraschenderen Haken.

„Exit Strategy to Myself“ heißt eines dieser Stücke, und dieser Titel beschreibt eigentlich das gesamte Album: Auf „Vertigo Days“ befinden sich The Notwist in einer permanenten Ausweichbewegung, vielleicht könnte man auch sagen im freien Fall – vom Can-artigen Krautrock-Geklöppel in „Ship“ , über die an die englischen Neo-Klassiker These New Puritans erinnernde Klimawandel-Kammermusik „Into the Ice Age“ bis zur zarten Minimal Music von „*stars*“, das mag schon Schwindelgefühle auslösen, wenn einem permanent der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Und trotzdem landen The Notwist immer wieder punktsicher bei sich selbst. Oder, die Exitstrategie hat ja einen Sinn, bei einer erweiterten Version von sich selbst. Dabei helfen auch die musikalischen Gäste, es sind mehr, als es jemals auf einem Notwist-Album gab, und keine andere Band könnte sie so harmonisch zusammenfügen.

Eine Pop-Sinfonie

Denn auf dem Papier hat die argentinische Singer-Songwriterin Juana Molina nichts mit Chicagoer Jazzmusikern wie Ben LaMar Gay und Angel Bat Dawid zu schaffen, und die wiederum passen nie und nimmer zum japanischen Pop-Duo Tenniscoats. Hier aber schon, und wenn man „Vertigo Days“ einmal am Stück durchgehört hat, begreift man auch sofort, dass es sich hier um eine in sich geschlossene Pop-Sinfonie handelt, der das Kunststück gelingt, zugleich nach allen Seiten offen und anschlussfähig zu bleiben.

Noch einmal: Diese Band ist 32 Jahre alt. Aber sie klingt immer noch wie neugeboren.