Premiere am Schauspiel KölnWie cool kann man mit 50 noch sein?
- Virginie Despentes' Romanvorlage erzählt die Geschichte des 50 Jahre alten Antihelden Vernon, der früher einen Plattenladen besaß und nun obdachlos ist.
- Regisseur Moritz Sostmann beschreibt in seiner Inszenierung die Katastrophe des Alterns.
- Der Einsatz von Puppen und viele gelungene Bilder halten den Abend zusammen.
Köln – „Im Angesicht der Katastrophe hält sich Vernon an einen Grundsatz: so tun, als ob nichts wäre.“ So charakterisiert Virginie Despentes Vernon Subutex auf der ersten Seite der nach ihm benannten Roman-Trilogie. Der Antiheld hat sich nicht umsonst nach einem Substitutionsmedikament für Heroin-Süchtige benannt. Er ist 50. Der Rausch ist längst vorbei. Die Benommenheit bleibt.
Die von Hagen Tilp für das Schauspiel Köln gebaute Puppe ist die Idealbesetzung für diesen lebensuntüchtigen Haltungswahrer: Mit verspiegelter Sonnenbrille wirkt sie wie der letzte Cowboy der Coolness. Ohne die schützenden Gläsern vor den blutunterlaufenen Augen ist ihr Gesicht eine Maske des Entsetzens. In beiden Fällen stand Iggy Pop, der melancholische Großvater des Punk, Pate. Die Katastrophe, die Despentes in ihren Romanen und der Kölner Hausregisseur Moritz Sostmann in der Bühnenfassung von Eberhard Petschinka beschreibt, ist zunächst einmal ganz schlicht die des Alterns. Wie cool kann man mit 50 noch sein? Wie einsam macht die Selbstverwirklichung?
Hüter des geheimen Wissens
Subutex war als Plattenhändler in Paris einst der Hüter geheimen Wissens. Doch diese Exklusivität ist der digitalen Revolution zum Opfer gefallen. Seinen Laden musste er schon vor Jahren aufgeben. Dann starben die Freunde von einst, Aram Tafreshian schludert die Exposition als Subutex’ Stimme in einem atemlosen Monolog zwischen zwei Zügen an der Kippe herunter. Unter ihnen ist auch Alex Bleach, der einzige, der es zum veritablen Rockstar gebracht, und immer wieder Vernons Mietkosten übernommen hatte. Jetzt ist der Plattenhändler obdachlos, tut aber weiter so, als ob nichts wäre, und surft von Couch zu Couch seiner überlebenden Freunde.
Auch für die gilt die Frage: Was hat dich bloß so ruiniert? Emilie, die ehemalige Bandkollegin, die schon zum Frühstück LSD schluckte: eine verbiesterte Beamtin. Xavier, der hoffnungsvolle Drehbuchautor: ein zeternder Rassist. Patrice, der kämpferische Kommunist: ein von Frau und Kind verlassener Schläger. Sostmann lässt manche von Puppen, andere vom Ensemble verkörpern. Nach einer Weile macht das keinen Unterschied mehr: Hier zappeln alle an unsichtbaren Fäden.
Doch nicht immer gehen Puppenspieler und -sprecher konform, mal schaut der Puppen-Vernon ungerührt zu, wie sein menschliches Alter Ego Tafreshian herumflippt, mal röhrt Katharina Schmalenberg ihren sexuellen Frust heraus, während ihre Emilie-Puppe damenhaft die Beine übereinander schlägt. Als aufgekratzte Musikjournalistin Lydia Bazooka wiederum wirkt Schmalenberg selbst puppenhaft. Eine Karikatur, ebenso wie Benjamin Höppners in Feinrippunterhose berserkender Patrice, oder Ines Marie Westernströers Berberin Olga, die Adeles „Skyfall“ brachial kaputtkreischt, das tollste Kabinettstückchen des Abends.
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Diese flüchtigen, aber fast durchweg treffenden Skizzen reiht Sostmann in einem schwarzen Ultrabreitwand-Rahmen aneinander (Bühne: Christian Beck). Was wir als Cinerama-Spektakel goutieren, lässt den Figuren nach hinten und oben keinen Platz. Sie können hier nur von A nach B hetzen. Wenn sie nicht gerade Teil der Szene sind, wuseln sie irgendwo an deren Rändern herum.
Erst nach der Pause öffnet sich der Horizont: Die Freunde haben sich auf der Suche nach dem nun wirklich obdachlosen Subutex zusammengefunden. Der pennt tagsüber im pittoresken Parc des Buttes-Chaumont, nachts legt er für seine Freunde auf, reiht auf unwiderstehliche Weise Track an Track. Bis Investment-Banker und Bettlerin, Wutbürger und Marxist, Nymphomanin und einsames Herz in einer glücklich befreiten Tanz-Masse aufgehen.
Den zweiten und dritten Band der drei Mal 400 Seiten umfassenden Romane handelt Sostmann nur noch kursorisch ab. Kaum, dass die Subutex-Jünger ihren zweiten Sommer der Liebe erlebt haben, werden sie auch schon von Maschinengewehrfeuer niedergemäht. Die rechtsradikale Einzeltäterin, die im Buch für das Blutbad verantwortlich ist, wurde gestrichen.
Auch die Kriminalgeschichte um das Videotestament von Rockstar Alex Bleach, und das Rachedrama um die muslimische Tochter einer (eventuell) ermordeten Pornodarstellerin, interessieren Sostmann vor allem als Material für weitere Charakterskizzen. Immerhin: Die Puppe des Weinstein-ähnlichen Filmproduzenten Laurent Dopalet, welche die beiden Erzählstränge verbindet, hat einen der besten Auftritte, wenn sie pinkelnderweise den bittstellenden Drehbuchautoren Xavier zur Schnecke macht. Gleich zwei Puppenspieler pusten dessen Haare hoch, um die Heftigkeit des Ausbruchs zu illustrieren.
Viele gelungene Bilder
Es sind solche kleinen Liebesdienste und die vielen gelungen Bilder — etwa der frankophile Einwanderer, der sich wie ein Hund am Eiffelturm reibt, und doch nie vom eingeborenen Establishment akzeptiert wird — die den Abend zusammenhalten. Despentes’ Trilogie hat noch einiges mehr an Gesellschaftsanalyse zu bieten, aber 1200 Seiten lassen sich eben nicht Eins zu Eins in einem schlüssigen Dreistunden-Abend übersetzen. Am Ende trollen sich die Gescheiterten dann so, wie sie gekommen sind, mitten durchs Parkett. Sie sind wir, das Leben ohrfeigt jeden. Nur Vernon Subutex bleibt auf der Bühne, wird als Erlöserfigur an einer riesigen Schallplatte gekreuzigt, als anbetungswürdiger Avatar des Analogen. Eine zutiefst ironische Utopie.
Stückbrief
Regie: Moritz Sostmann
Bühnenfassung: Eberhard Petschinka
Bühne: Christian Beck
Kostüme: Elke von Sivers
Puppen: Hagen Tilp
Mit: Johannes Benecke, Sebastian Fortak, Nicola Gründel, Benjamin Höppner, Anna Menzel, Magda Lena Schlott, Katharina Schmalenberg, Aram Tafreshian, Ines Marie Westernströer
Termine: 5., 6., 9., 10., 29. November, 8. Dezember, Depot 1, 200 Minuten