Berlin – Die Literatur-Journalistin Iris Radisch hat den gestorbenen Marcel Reich-Ranicki für sein Temperament bewundert. „Selbstverständlich war er verletzend. Selbstverständlich ist er über das gegangen, was man als rote Linie in der Literaturkritik bezeichnen könnte“, sagte sie am Donnerstag im Deutschlandfunk. „So war er, ein unglaubliches Temperament. Da, wo es verletzend war, war es Teil seiner Lebendigkeit.“ Er bleibe ihr in guter Erinnerung, betonte Radisch. „Ich habe mit Reich-Ranicki gerne zusammengearbeitet.“ Ihm sei völlig klar gewesen, wie streitbar er war. „Das hat er ja auch mit Genuss ausgestellt.“ Er habe aber auch zuhören können, „obwohl seine Redeanteile immer etwas größer waren“. Radisch war in späteren Jahren Teil des „Literarischen Quartetts“ im ZDF.
Marcel Reich-Ranicki ist nach Darstellung seines langjährigen Weggefährten Hellmuth Karasek (79) nicht nur vor laufender Kamera leidenschaftlich gewesen. „Literatur war für ihn Leben, und er war genauso streitbar und engagiert und leidenschaftlich, wenn kein Fernsehen dabei war“, sagte der Autor und Kritiker Karasek am Donnerstag im WDR-Radio. Karasek gehörte viele Jahre mit dem am Mittwoch im Alter von 93 Jahren gestorbenen Literaturkritiker Reich-Ranicki zum „Literarischen Quartett“ im ZDF. „Man konnte sich immer mit ihm über Literatur streiten, und zwar sehr positiv streiten, und er war immer ungeduldig und leidenschaftlich.“
Politik würdigt Reich-Ranicki
Bundespräsident Joachim Gauck würdigte Reich-Ranicki als „leidenschaftlichsten Streiter und entschiedensten Anwalt“ der deutschen Literatur. „Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen“, erklärte Gauck. „Alle haben ihn geachtet, viele haben ihn geliebt, wir alle werden ihn vermissen“, sagte der Bundespräsident. „Unser Land trauert um Marcel Reich-Ranicki.“
„Wir verlieren in ihm einen unvergleichlichen Freund der Literatur, aber ebenso der Freiheit und der Demokratie“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). „Ich werde diesen leidenschaftlichen und brillanten Mann vermissen.“ Nicht einmal der mörderische Hass der Nazis habe ihm seine Liebe zu den deutschen Dichtern austreiben können. Man könne nur dankbar dafür sein, dass der Sohn einer jüdischen deutsch-polnischen Familie, der Verwandte in den NS-Vernichtungslagern verlor, sein Zuhause wieder in Deutschland gefunden und dem Land so viel gegeben habe.
Bundestagspräsident Norbert Lammert schrieb in einem Beileidsbrief an den Sohn des Gestorbenen: „In seiner unnachahmlichen Art kämpfte er für eine qualitätsvolle Literatur und setzte sich für die deutsche Sprache ein.“ Seine eindrucksvolle Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2012 im Deutschen Bundestag „bleibt unvergessen“.
Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nannte Reich-Ranicki in der „Bild“-Zeitung einen überragenden Giganten der deutschen Literatur. „Er hatte ein unglaubliches jüdisches Schicksal und mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ wird er unsterblich bleiben“, sagte Graumann.
„Der Kritiker ist kein Richter, er ist der Staatsanwalt oder der Verteidiger.“ (Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ am 15. Dezember 1994)
„Aufrichtigkeit ist die erste Pflicht des Kritikers.“ (in der Talkshow „Menschen bei Maischberger“, 2004)
„Die Angst vor der deutschen Barbarei, das habe ich auch in meiner Autobiografie geschrieben, hat mich ein Leben lang begleitet.“ (in „Frankfurter Allgemeine“, 2009)
„Ich habe die Entscheidung nie bedauert, mich in diesem Land niederzulassen.“ (bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern, 2002)
„Er verübelt Juden, dass sie überlebt haben. Das ist durchaus kein Antisemitismus, das ist schon Bestialität.“ (in „Die Welt“ über das Buch „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser. Nach einer Klage des Schriftstellers musste Reich-Ranicki diese Äußerung von 2005 formal zurücknehmen)
„Wenn ein deutscher Schriftsteller ihn erhalten sollte, und dies habe ich schon vor Jahren immer wieder gesagt, dann ist Grass der Richtige gewesen.“ (zur Vergabe des Nobelpreises an Günter Grass, 1999)
„Seine letzten Bücher sind so misslungen, dass er jetzt kaum noch Chancen auf den Nobelpreis hat.“ (vor der Vergabe des Nobelpreises an Günter Grass, 1997)
„Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen.“ (im „Literarischen Quartett“ am 15. Dezember 1994)
„Ohne Eitelkeit gibt es kein Schreiben. Egal, ob Autor oder Kritiker - Eitelkeit muss dabei sein. Sonst entsteht nichts. Thomas Mann war wahnsinnig eitel, Richard Wagner auch, und Goethe und natürlich Schiller. (in „Die Weltwoche“, 2009)
„Viele Autoren und Kritiker hegen ein Misstrauen gegen unterhaltsame Literatur. Ich sage stattdessen: Literatur darf nicht nur unterhaltsam sein, sie muss es sogar!“ (im „Focus“, 2010)
Schauspieler Matthias Schweighöfer, der Reich-Ranicki in der Verfilmung von „Mein Leben“ darstellte, schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Marcel Reich-Ranicki ist tot. Es war mir eine große Ehre Marcel verkörpern und kennenlernen zu dürfen. Ein großer Mensch ist nun gegangen und ich verneige mich vor ihm! Danke Marcel, für all das, was Du uns hinterlässt. Ich werde immer an Dich denken! Matthias“„Deutschland verliert einen bedeutenden Publizisten und großen Menschen. Er wird uns allen fehlen“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel in Berlin. Reich-Ranicki sei ein „scharfsichtiger Kritiker“, „ein brillanter Literaturvermittler und eine faszinierende wie vielschichtige Persönlichkeit“ gewesen.
„Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht“, twitterte der Mit-Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), Frank Schirrmacher, am Nachmittag. Reich-Ranicki hatte lange für die „FAZ“ gearbeitet.
Entertainer Thomas Gottschalk hob Reich-Ranicki als Persönlichkeit hervor, die mit ihrer „Literaturkritik eine Landschaft, die für viele Menschen grau ist, bunt gemacht“ hat. „Er hat für Deutschland mehr getan als die meisten Kultur-Politiker. Mit seinen Memoiren hat er uns nichts vergessen, aber vieles vergeben“, sagte Gottschalk .
Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) würdigte Reich-Ranicki als „eine der prägendsten Figuren des Landes“. „Marcel Reich-Ranicki wirkt nach - in dem, was er sagte und in dem, was er schrieb“, heißt es in einem Nachruf des in der EKD für Medienangelegenheiten zuständigen badischen Landesbischofs Ulrich Fischer. Bischof Fischer erinnerte an die Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags am 27. Januar 2012, bei der Reich-Ranicki als Redner auftrat. Als Zeitzeuge habe er in bewegenden Worten an das Schicksal der Bewohner des Warschauer Ghettos erinnert. „Marcel Reich-Ranicki hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass wir sie nicht vergessen.“
NRW-Regierungschefin Hannelore Kraft erinnerte daran, dass Reich-Ranicki 2005 mit dem Staatspreis Nordrhein-Westfalen geehrt wurde - die höchste Auszeichnung, die das Land zu vergeben hat. „Trotz der erlebten Gräuel des Nazi-Regimes wählte der Holocaust-Überlebende Reich-Ranicki nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland als seine Heimat und blieb Zeit seines Lebens ein Verfechter von Menschlichkeit und Toleranz, der sich stets gegen Fremdenfeindlichkeit und Willkür einsetzte“, erklärte Kraft am Mittwochabend. Auch deshalb habe er den Staatspreis erhalten.
WDR-Intendant Tom Buhrow erklärte in Köln, Reich-Ranicki sei einer der „großartigsten Literaturkritiker Deutschlands“ gewesen. Der WDR sei „sehr stolz darauf, seine außergewöhnliche und bewegende Lebensgeschichte in dem Fernsehfilm 'Mein Leben - Marcel Reich-Ranicki' für das Erste einem großen Publikum nahe gebracht zu haben“. Der aufwändige Film unter der Regie des israelisch-deutschen Filmemachers Dror Zahavi war an Drehorten in Nordrhein-Westfalen und Polen entstanden.