Köln – Erinnern, das heißt stören. Das ist, in einem Satz, die Botschaft von Nuran David Calis’ Abend über den Mordanschlag von Mölln, der sich 2022 zum 30. Mal jährt. Sie trifft wohl auf den Großteil der Recherche-Projekte zu, die Calis’ für das Schauspiel Köln realisiert hat, seit er 2014 mit „Die Lücke“ einen Abend zum NSU-Attentat in der Keupstraße inszeniert hat.
Der war so aufrüttelnd wie unbequem, es sollte eben gerade nicht um Versöhnung gehen, und er ist in upgedateter Form, als „Die Lücke 2.0“ immer noch im Repertoire des Theaters. Seitdem hat der Autor und Regisseur seine Vorgehensweise nicht grundlegend geändert: Auch in „Mölln 92/22“ stellen zuerst einmal drei Schauspieler ihre Arglosigkeit aus, oder zumindest zwei von dreien: Kristin Steffen erinnert sich, dass es in ihrer Heimat, auf der Schwäbischen Alb, in Ermangelung von Ausländern keinen Rassismus gegeben habe, wundert sich aber, wie doch auf einmal auf den Dörfern Hitlers Geburtstag gefeiert wurde.
Auf Steffens Lidern, wie auch auf denen ihrer Kollegen, sind Augen geschminkt. Zeichen dafür, wie blind die hier häufig zitierte weiße Mehrheitsgesellschaft durch eine Welt wandelt, deren Schieflage nur ihr nicht auffällt.
KZ-Häftlinge gejagt
Stefko Hanushevsky, in der Nähe von Linz aufgewachsen, hatte noch die Generation derer erlebt, die nach einem Massenausbruch aus dem KZ Mauthausen Hatz auf die Entflohenen gemacht hatten. Gleichwohl wäre in seiner Familie, mit ihrer eigenen Migrationsgeschichte, jede Form von Rassismus tabu gewesen. Als Sohn türkischer Eltern hat Ensemblegast Ismail Deniz sehr viel handfestere Erfahrungen gemacht, ob mit Skinheads in Dinslaken oder mit der Polizei am Kölner Hauptbahnhof.
Doch auch zwischen seinem Monolog und dem, was in der Nacht auf den 23. November 1992 in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln geschah, klafft noch eine Lücke. Vielleicht erinnern sie sich noch: Neun Menschen wurden schwer verletzt, drei Frauen starben, als zwei ortsbekannte Neonazis Molotowcocktails in zwei von türkischen Familien bewohnten Häuser warfen. Die zehnjährige Yeliz Arslan, ihre 14-jährige Cousine Ayşe Yılmaz und Yeliz’ Großmutter Bahide Arslan, Matriarchin der Familie, erlagen ihren Brandverletzungen.
Von Hoyerswerda bis Solingen
Vorausgegangen waren ausländerfeindliche Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, ein rechtsextremer Brandanschlag auf eine türkische Familie in Solingen mit fünf Toten folgte wenige Monate später: Es herrschte Pogromstimmung im wiedervereinigten Deutschland.
Die hat freilich eine lange Vorgeschichte, wie es Experten von der Professorin für Einwanderungsgeschichte bis zum grünen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir in Videos belegen. Die Einspieler werden auf drei – für jeden Toten eine – auseinanderklappbare Haushälften projiziert. In eines dieser Module hat Bühnenbildnerin Anne Ehrlich ein typisches Kinderzimmer der frühen 90er gebaut: Ein Schutzraum, der für zwei junge Mädchen zur Todesfalle wurde.
Rechter Bocksgesang im „Spiegel“
Noch deutlicher zeigen einige „Spiegel“-Titelbilder aus den 1980er und 90ern die Biedermann-Vorgeschichte der Brandstiftungen. Steffen hält sie anklagend in die Kamera: Sie machen ganz unverhohlen Stimmung gegen „Gastarbeiter“ und Asylsuchende. Immer wieder lesen die Schauspieler auch Passagen aus Botho Strauß’ ziemlich genau zwischen den Morden von Mölln und Solingen im „Spiegel“ erschienenen Essay „Anschwellender Bocksgesang“ vor, der mit einigem Schwulst, gleichwohl präzise, die Mainstreamisierung des rechten Denkens voraussagt, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben. So er diese nicht gar herauf beschworen hat.
Opfer, bemerken die Schauspieler, kommen in Strauß’ Text nur in Bezug auf die deutsche Wohlstandsgesellschaft vor – und zwar als etwas, dass ihr fehlt. Nuran David Calis aber will nun endlich genau diese Opfer zu Wort kommen lassen, denen nicht nur geliebte Menschen genommen, sondern die noch einen zweiten Tod sterben mussten, als sie ihrer eigenen Geschichte beraubt wurden.
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Das sind die stärksten Momente dieses in seiner Schmucklosigkeit ergreifenden Abends, wenn die vierte Wand durchbrochen wird und zwei der Überlebenden des Anschlags von der Zuschauertribüne auf die Bühne treten: Ibrahim Arslan, der damals als Siebenjähriger überlebte, weil seine Großmutter ihn in nasse Laken eingewickelt hatte, berichtet, wie Mölln seine Familie bis heute behandelt, als trüge sie die Schuld an der unguten Assoziation, die man mit dem Namen der Stadt verbindet.
Er erzählt, wie sie wieder zurück ins Brandhaus ziehen mussten, weil sich keine andere Unterkunft fand, wie gleich nebenan, als Reaktion auf die Anschläge, eine Begegnungsstätte gebaut wurde, die jedoch nur insofern mit der Familie zu tun hatte, als seine Mutter dort putzte.
Stadt Mölln enthielt Briefe an Opfer vor
Er erzählt auch, wie die Überlebenden auf den offiziellen Gedenkfeiern der Stadt als stumme Statisten behandelt wurden, so dass sie heute ihre eigenen, von der Stadt getrennten Gedenkfeiern abhalten. Und berichtet schließlich, wie er erst vor drei Jahren durch Zufall von rund 900 Briefen erfuhr, die aus dem ganzen Land an die Familien Arslan geschickt worden waren – Beileidsbekundungen, Hilfs- und Vernetzungsangebote – und die die Stadt einbehielt und in ihr Archiv expedierte.
Das Leid der Überlebenden können wir nicht erfassen, aber ihre ohnmächtige Wut, die spürt man an diesem Abend selbst in sich hochkochen, gemischt mit einer überwältigenden Scham.
Erinnern heißt stören. Das kann man so schlicht schreiben, aber letztlich ist es ein Prozess, an dem man teilhaben muss. Schauen Sie sich dieses Stück an.