So war der „Polizeiruf“ aus RostockMacholand ist abgebrannt
Der Fall
Traumatisierte Pflegekinder, entnervte Eltern, ein brutaler Mord, ein lebensmüder Schwerstbehinderter, religiöse Eiferer, eine kummervolle Kommissarin, einsame Männer, eine sterbenskranke Krebspatientin. Im neuen Rostocker „Polizeiruf 110“ war für jeden etwas dabei, der unsere Welt für einen ewigen Quell des Leidens hält. So viel geballtes Unglück führt beinahe zwangsläufig zu einem krimitauglichen Verbrechen: Eine alleinerziehende Mutter wird in der eigenen Küche erstochen, im Nebenzimmer stirbt ihr vom Hals abwärts gelähmter Sohn, weil niemand mehr da ist, um sich um ihn zu kümmern.
Die Verdächtigen stehen dann buchstäblich Schlange, weil die Mutter zu Lebzeiten häufigen Herrenbesuch hatte, und der beste Freund des toten Jungen ist auf der Flucht. Bei sich trägt er ein Küchenmesser und in sich eine niemals überwundene Vergangenheit als gewalttätiger Mafiapaten-Sohn.
Die Auflösung
Die goldene „Derrick“-Regel galt auch im „Polizeiruf“ aus Rostock: Der erste Verdächtige ist es nie. Insofern läuft Max (Alessandro Schuster), der drogensüchtige Pflege-Teenager im Zeugenschutzprogramm, bei der Mördersuche außer Konkurrenz, zumal sich die designierte Neue im Ermittler-Team, Melly Böwe (Lina Beckmann), auch noch löwenmuttermäßig für ihn einsetzt. Das wäre ja ein schöner Einstand geworden, sollte sie sich dermaßen in einem schuldlos schuldig gewordenen Knaben irren. Praktischerweise trägt Max einen derart gewaltigen Schuldkomplex mit sich herum, dass er selbst glaubt, er habe den Mord begangen, und so können die beiden Kommissarinnen nicht nur einen Teenager zur Strecke bringen, sondern auch einen retten.
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Im Endspurt bleibt wenig Zeit für die Aufklärung, weshalb sich Drehbuchautor Florian Oeller für eine ziemlich pragmatische Schlusswendung entschlossen hat. Melly Böwe und Katrin König (Anneke Kim Saranu) platzen, gelenkt durch weibliche Intuition, gerade rechtzeitig zur Tür herein, um Maxens Pflegeschwester davon abzuhalten, die nächste Mutter zu massakrieren.
Die Frauen
Der letzte „Polizeiruf“ aus Rostock war eine Männerwelt: Serbische Mafia, rechtsradikale Schläger, Charly Hübners Seelenqualen. Jetzt, nach dem Ausscheiden von Hübners Kommissar Bukow, sind die Frauen am Drücker. Böwe und König bilden ein zupackendes Ermittlerduo, hinzu kommen eine dominante Pflegemutter, zwei alleinerziehende Mütter in tragenden Rollen, eine Mutter Theresa in der Krebstherapie sowie eine XX-Mörderin. Auf der maskulinen Seite stehen untergebutterte, gebrochene, hilflose, schwächliche, leicht durchschaubare oder bemitleidenswerte Männer. Macholand ist abgebrannt.
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Allerdings wird auch nicht das Lied der weiblichen Solidarität gesungen. Böwe und König müssen sich erst mal beschnuppern und einige Hindernisse überwinden, bevor sie mutmaßlich beste Freundinnen mit Waffen werden. Beckmann und Saranu spielen diese allmähliche Annäherung lässig bis schelmisch, am schönsten ist die Szene, in der König heimlich Böwes selbstgemachte Muffins probiert und das Stück nach einem Bissen erstaunt wieder zurücklegt. Merke: Eine Mutter, die nicht backen kann, muss andere Qualitäten haben.
Fazit
Wenn die bürgerliche Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist, steht es um letztere in Rostock wahrlich nicht zum Besten. Die Väter sind in diesem „Polizeiruf“ entweder abwesend oder taugen nicht zum Vorbild, die Mütter müssen es alleine schaffen, was ihnen mal besser und mal schlechter gelingt – im Fall der einmal zu oft verstoßenen Pflegetochter geht das auf tragische Weise schief. Dass sich die Gemeinschaft, die dem Idealbild einer heilen Familienwelt am nächsten kommt, als Brutstätte der Neurosen und des Verbrechens entpuppt, ist selbstredend kein Zufall. „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“, dieser Serientitel klingt wie ein Urteil: Lebenslange Haft mit unsicherer Aussicht auf Bewährung.