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Jennifer Egan in KölnWas, wenn wir alle unsere Erinnerungen teilen könnten?

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Die amerikanische Autorin Jennifer Egan  

Köln – Die amerikanische Autorin Jennifer Egan erzählt in ihrem neuen Roman „Candy Haus“ von einer Technologie namens „Besitze dein Unterbewusstes“. Die ermöglicht Menschen den totalen Zugriff auf ihre verschütteten Erinnerungen. Die eigene Kindheit kann wiederentdeckt, die schönsten (oder traumatischsten) Ereignisse des Lebens immer wieder erlebt werden. Man kann sie auch teilen. Wer sein in die Cloud ausgelagertes Innerstes ins kollektive Bewusstsein speist, bekommt im Gegenzug Zugriff auf die Erinnerungen anderer.

„Nein“, winkt Jennifer Egan ab, als wir uns in der Lobby eines Kölner Hotels treffen, „die Idee ist überhaupt nicht originell. Es gibt andere Bücher, die mit ähnlichen Konzepten spielen. Oder auch eine Episode der Fernsehserie „Black Mirror“, die habe ich allerdings noch nicht gesehen.“ Aber die Idee sei ihr auch gar nicht so wichtig gewesen, ja, sie glaubt nicht einmal, dass eine solche Technologie im Bereich des Möglichen liegt: „Ich denke nicht, dass wir das Gehirn gut genug verstehen.“

„Ich habe meine Studenten im Creative-Writing-Kurs einmal eine Liste mit all den Dingen erstellen lassen, die ihnen gerade durch den Kopf gehen. Hörst du ein Lied? Worüber machst du dir Sorgen? Wie fühlt sich dein Körper an? Ich wollte sie an all die Schichten des Denkens und der Wahrnehmung erinnern, die gleichzeitig geschehen.“

Ist das kollektive Bewusstsein schon Wirklichkeit?

Seltsamerweise stellt man sich die Frage, wie das nur möglich sein soll, ins Unterbewusstsein anderer Menschen einzutauchen, während der Lektüre kein einziges Mal. Im Gegenteil, der Gedanke wirkt vertraut. „Weil es in gewisser Weise bereits geschehen ist“, sagt Egan. „Ich meine, das Internet ist doch eine Art kollektives Bewusstsein.“

Die Interaktion zwischen Menschen und neuen Technologien fasziniere sie. Dabei habe sie durchaus Bedenken, sagt Egan. So verstehe sie etwa nicht, warum man sich mit virtueller Realität befasse, statt darüber nachzudenken, „wie wir die Welt, in der wir tatsächlich leben, verbessern können, anstatt ihr noch weiter zu entfliehen“?

Ein unerwarteter Bestseller

Aber die Neugierde überwiege. „Ich hätte selbst nicht erwartet, dass mein Buch letztlich so optimistisch ausfällt. Ich bin jedenfalls mit der Erkenntnis herausgegangen, dass ich offensichtlich großes Vertrauen in unsere Fähigkeit habe, Probleme zu lösen.“ Das war schon vor zwölf Jahren so, als Egan mit ihrem vierten Roman „Der größere Teil der Welt“ die digitale Krise der Musikindustrie in 13 tolldreisten Kapiteln mit ebenso vielen Schreibstilen spiegelte, einen unerwarteten Bestseller landete und den Pulitzer-Preis gewann.

„Candy Haus“ ist die Fortsetzung von „Der größere Teil der Welt“, nur dass es jetzt um Soziale Netzwerke statt um Plattenlabels geht und Nebenfiguren des älteren Romans hier zu Hauptfiguren werden.

Man kann „Candy Haus“ völlig voraussetzungslos genießen, chronologisch spielen einige Kapitel sogar vor dem ersten Roman. Angefangen habe sie mit dem neuen Buch schon während der Lesereise zum älteren, zuerst mit dem Kapitel „Lulu die Spionin“, dass sie ursprünglich in 140 Zeichen langen Abschnitten für Twitter verfasst hatte. Aber dann ließ sie ihre Entwürfe liegen, vollendete stattdessen den historischen Roman „Manhattan Beach“, über Marinetaucherinnen im Zweiten Weltkrieg.

Die leicht bedrohliche Qualität der Trump-Jahre

Erst danach entschloss sich Egan, das handgeschriebene Material endlich abzutippen. „Ich wusste kaum noch, was ich finden würde. Vieles davon war uninteressant, aber manches fühlte sich plötzlich relevanter an. Geschrieben hatte ich während der Obama-Jahre, eine sehr optimistische Zeit in Amerika. Als ich dann in den Trump-Jahren darauf zurückkam, fühlte sich die leicht bedrohliche Qualität mancher Passagen viel passender an.“

Was noch fehlte, war die eingangs erwähnte Erinnerungsmaschine. „Wenn ich anfange zu schreiben habe ich keinen Plan. Die Gesamtstruktur kommt immer zuletzt ins Blickfeld, weil ich dann am meisten aus dem Material lernen kann. Fängt man mit einer Idee an, dient plötzlich alles dieser Idee. Das funktioniert in der Belletristik nie gut. Ich möchte bei den einzelnen Menschen anfangen und mir von ihnen zeigen lassen, wie ihre Welt aussieht.“

Privatsekräterin einer grausamen Spionin

Verständlicherweise finden wir im Roman auch Figuren vor, die ihr Innenleben nicht teilen wollen, darunter die Ethnologin, auf deren Forschung die disruptive Technologie basiert. Das ist allerdings gar nicht so einfach, man existiert ja auch in den Erinnerungen anderer Menschen. Wollen solche Verweigerer unbemerkt aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden, engagieren sie Stellvertreter, die sie online simulieren. Eine letzte Nische für Schriftsteller in dieser schönen, neuen Welt?

Nicht ganz. Ausgerechnet dieses Detail stammt aus Egans eigenen Erinnerungen: „Ich war als junge Autorin drei Jahre lang Privatsekretärin der Gräfin von Romanones. Sie war während des Zweiten Weltkriegs Spionin gewesen. Sie war sehr schön, hatte als Modell für Hattie Carnegie gearbeitet, bevor sie vom OSS [der Vorläuferorganisation der CIA] angeworben wurde. Die Gräfin war eine extreme Person, grausam, sehr rechts und mit den Reagans befreundet. Wir erlebten eine Menge verrückter Abenteuer zusammen. Aber vor allem war ich ihre Stellvertreterin, führte ihre gesamte Korrespondenz in ihrer Stimme, signierte ihre Bücher. Sie war leicht zu imitieren. Ich übernahm ihre Persona.“

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Und nein, bekräftigt Egan, sie glaube nicht, dass sich Autoren Nischen suchen müssten, wenn überhaupt gebe es das Problem, dass die besten Schreiber derzeit beim Fernsehen anheuern. „Aber Literatur kann etwas, was keine andere Kunstform kann: Belletristik ist kulturelles Träumen. Gerade weil sie ohne Bilder erzählt, kann sie das innerste Artefakt eines kulturellen Moments sein. Schaut man sich ein Bild an, macht man das Gegenteil: Man befindet sich außerhalb.“

Man müsse unser vernetztes Leben nicht ablehnen. Aber sich darüber im Klaren sein, dass es „unglaublich kluge Leute gibt, die ihre Karriere dem Ziel gewidmet haben, uns davon abzuhalten, von diesen Geräten wegzukommen. Sich mit einem Buch hinzusetzen ist also ein Akt des Widerstands.“

„Candy Haus“ ist bei S. Fischer erschienen, 416 Seiten, 26 Euro