„Wenn du mir vier Bier gibst ...“Wie Christoph Kramer zum heimlichen Star der EM wurde

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Fussball, UEFA EURO, EM, Europameisterschaft,Fussball 2024 Gruppe A - 3.Spieltag Schweiz - Deutschland 23.06.2024, Frankfurt Arena Christoph Kramer Frankfurt am Main Frankfurt Arena Hessen Deutschland *** Sport, Football, UEFA EURO 2024 Group A 3 Matchday Switzerland Germany 23 06 2024, Frankfurt Arena Christoph Kramer Frankfurt am Main Frankfurt Arena Hessen Germany

Immer mitten drin: Christoph Kramer hat sich bei der Fußball-EM in die Herzen der TV-Zuschauer hineinmoderiert.

Vier EM-Wochen sind vorbei, und der Gewinner heißt: Christoph Kramer. Der ZDF-Experte glänzte am Mikrofon - mit Fachwissen und bissigen Analysen.

Was haben wir in vier Turnierwochen für große Momente von großen Spielern gesehen! Den 16-jährigen spanischen Wunderspieler Lamine Yamal mit seinen unwiderstehlichen Sololäufen. Die deutschen Geistesblitze von „Wusiala“. Den neuen Stern am italienischen Verteidigerhimmel mit dem wohlklingenden Namen Riccardo Calafiori. Und und und.

Die Tatsache, dass so eine Europameisterschaft für die meisten Menschen kein Stadion-, sondern ein Medien-Event ist, bringt in der Regel eine weitere Gattung Stars hervor. Jene TV-Persönlichkeiten, die den Zauber des Sports in die Wohnzimmer transportieren sollen. So kommt es, dass bis heute manche kollektive Turniererfahrung verknüpft ist mit Namen wie Netzer, Delling, Klopp oder Scholl. Wird man später einmal auf die Heim-EM 2024 blicken, werden viele ganz unvermittelt den Namen Christoph Kramer im Ohr haben.

Christoph Kramer analysiert, Per Mertesacker lässt sich feiern

Gewiss, auch die ARD-Expertin Almuth Schult genießt hohes Ansehen. Sogar Bastian Schweinsteiger hatte am ARD-Mikro seine Momente - erhellende und irritierende gleichermaßen. Auch ist die Bedeutung von Kramers Kumpel und Weltmeister-Kollege Per Mertesacker nicht zu unterschätzen. Allerdings nahm der frühere Abwehrspieler im ZDF-Duo dann doch eher die Rolle des komischen Sidekicks ein, der sich mitunter bereitwillig an den Rand quasseln lässt.

Schön zu sehen nach dem Spiel Deutschland gegen Dänemark. Da feierten die verbliebenen Fans im Dortmunder Stadion das ZDF-Experten-Duo minutenlang mit Sprechchören. Während sich Kramer gewohnt eloquent einen Wolf analysierte, respondierte Mertesacker die Zuneigung von den Rängen mit Tanzen und rhythmischem Klatschen. Ein gutes Team lebt davon, dass jeder weiß, wo er seine Stärken hat.

Jochen Breyer (rechts) löste mit seiner Kritik am Begriff „Spielermaterial“ eine heftige mediale Debatte aus.

Jochen Breyer (rechts) löste mit seiner Kritik am Begriff „Spielermaterial“ eine heftige mediale Debatte aus.

Die Stärken von Christoph Kramer, dem noch aktiven Profi von Borussia Mönchengladbach, liegen zuvorderst in seiner Spontaneität, die so nicht jeder vor einer TV-Kamera rüberbringen kann. Medientrainings, sagte er im „Spiegel“-Interview, habe er abgelehnt: „Ich möchte auch im Vorhinein keine Fragen wissen. Wenn ich mir etwas zurechtlegen kann, tut mir das nicht gut. Ich bin kein guter Schauspieler. Ich möchte mich hinsetzen und auf das antworten, was ich gefragt werde.“ Außerdem sei ihm wichtig, „dass eine Meinung deutlich rüberkommt“.

Dem Anspruch wurde der 33-Jährige während der vier Turnierwochen fraglos gerecht. Frag nach bei den Engländern, die in seiner Analyse wenig Gnade fanden. „Das ist ein 1,5-Milliarden-Kader, das kann ja nicht der Anspruch sein!“, schimpfte Kramer über das ambitionsarme Spiel der „Three Lions“. Vor einem anderen Englandspiel gab Kramer schlagfertig an, ein Nickerchen gemacht zu haben („War wichtig“). Einen Bericht über die englischen Fans kommentierte er trinkfest: „Wenn du mich im Englandtrikot da hinstellst und mir vier Bier gibst ...“ - „Dann findest du das Spiel auch super?“, fragte Moderator Jochen Breyer. Kramer: „Ja, genau.“

Christoph Kramer über Jude Bellingham: „Boah, manchmal nervt er“

Während der Regenpause beim Spiel Deutschland gegen Dänemark hätte die Stunde von Kathrin Müller-Hohenstein schlagen können. Stattdessen retteten die Experten Kramer (Mitte) und Mertesacker die ungeplante Situation. (Bild: ZDF)

Während der Regenpause beim Spiel Deutschland gegen Dänemark hätte die Stunde von Kathrin Müller-Hohenstein schlagen können. Stattdessen retteten die Experten Kramer (Mitte) und Mertesacker die ungeplante Situation. (Bild: ZDF)

Weniger Verständnis hatte er für die Allüren des englischen Superstars Jude Bellingham: „Nach dem Turnier in der Sommerpause hoffe ich, dass er sich ein bisschen reflektiert. Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, der sagt, boah, manchmal nervt er.“

Dass Kramer mit seiner Art zu sprechen („Ich sage wahrscheinlich zu häufig 'Schei...' und 'geil'“) das Publikum irgendwann auch mal nervt, ist nicht auszuschließen. Allerdings wird er klug genug sein, das selbst zu bemerken. Im Hier und Jetzt des EM-Sommers 2024 war er jedoch vielmehr eine Art rhetorische Überlebensversicherung für die TV-Profis an seiner Seite. Gut zu sehen beim Dortmunder Regen-Spiel Deutschland gegen Dänemark.

Fassungslos staunte Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein über „Hagelkörner groß wie Tischtennisbälle“. Während die Fans im Unwetter während der Spielunterbrechung tanzten und feierten, schaute die erfahrene ZDF-Frau verschreckt bis bedröppelt, als wäre gerade das Barbecue zur Goldhochzeit von Mama und Papa ins Wasser gefallen: „Es ist eigentlich ein unglaubliches Spektakel, wenn's nicht so traurig wär. Schade.“ Aber zum Glück ist Christoph Kramer zu allem Kompetenz-Überfluss auch ein passabler Aushilfsmeteorologe. „Ich bin mit allen Bauernweisheiten gewaschen“, konnte er versichern, „das geht gleich weg“. Überflüssig zu erwähnen, dass es genau so kam.

Die „Spielermaterial“-Debatte und wie sie abgeräumt wurde

Größer war die Aufregung nur um die Begrifflichkeit „Spielermaterial“. Dabei konnte Kramer gar nicht viel dazu. Außer dass er wie auch Per Mertesacker die Bezeichnung in den Augen von Moderator Jochen Breyer zu oft verwendet hatte: „Ich weiß, das wird bei einigen Fans zu Hause kritisch gesehen, weil Menschen kein Material sind.“

Kramer reagierte auch hier perfekt. Nämlich erst mal gar nicht. Um dann nach Tagen der medialen Aufregung die Debatte auf eine Weise abzuräumen, die für seinen Freund Jochen Breyer gesichtswahrend blieb. „Ich muss sagen, mir tat Jochen in der Situation ein bisschen leid“, gab Kramer in einem Podcast-Interview zu Protokoll.

Breyer müsse „als Moderator schon mal auf ein, zwei Dinge hinweisen und allen Meinungen, die es in Deutschland gibt, einen Raum geben“. Dennoch habe er sich sehr gewundert: „Ich dachte erst, er will einen Witz vorbereiten. Wenn sich einer bei dem Wort 'Spielermaterial' angegriffen fühlt - dem kann ich auch nicht mehr helfen. Ich bin auch Spieler, und wenn einer 'Spielermaterial' sagt, denke ich nicht: 'Bitte, ich bin ein Mensch'.“

Glänzende Berufsaussichten

So schwang sich Kramer neben seiner Tätigkeit als Fußball-Experte auch noch en passant als Sprachanalyst und vor allem als Medienkritiker auf. Tenor: Es gehe immer nur um Klicks und negative Überschriften. Darum sei es hier ausdrücklich erwähnt: Christoph Kramer hat während der EM nicht nur unnachahmlich gemeckert, sondern auch viel und leidenschaftlich gelobt.

Ein Interview mit Sandro Wagner nahm er im ZDF-EM-Studio zum Anlass, ein flammendes Plädoyer für Hierarchien zu halten. Starke Hierarchien, wohlgemerkt, nicht die viel beschworenen flachen. „Hierarchie ist das Unterschätzteste, das es gibt!“, beteuerte er. Und mit Blick auf Per Mertesacker: „Der Mann hat 104 Länderspiele, und wenn er sagt 'so und so ist das', dann hab' ich die Schnauze zu halten.“ Falls Kramer nicht bald mal Trainer wird, steht ihm definitiv eine Karriere als Unternehmensberater offen. (tsch)