Berlin – Die Berliner Staatsanwaltschaft will den 29-jährigen Amokfahrer vorläufig in einer Psychiatrie unterbringen lassen. Es werde ein Unterbringungsbefehl beantragt, sagte der Sprecher der Behörde, Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner, am Donnerstag in der Hauptstadt.
Es spreche „relativ viel“ für eine paranoide Schizophrenie des Manns, der am Mittwoch eine Frau getötet und 32 weitere Menschen verletzt haben soll.Bei der Durchsuchung des Wohnung des 29 Jahre alten Fahrers seien Medikamente gefunden worden. Der Beschuldigte habe seine Ärzte von der Schweigepflicht entbunden. Es gebe keine Anhaltspunkte für einen terroristischen Hintergrund. „Aber auch ein Unfall wird sich vor diesem Hintergrund ausschließen lassen“, so Büchner.
Auch die Polizei hatte bekanntgegeben, dass der Mann in der Vergangenheit psychische Probleme gehabt haben soll. „Die genauen Umstände müssen im Rahmen der laufenden Ermittlungen noch geklärt werden“, sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Donnerstag im Abgeordnetenhaus.
Der jetzt 29-jährige Mann armenischer Herkunft sei 2015 in Deutschland eingebürgert worden. Bei der Polizei sei er mehrfach aufgefallen, es habe Ermittlungen gegeben wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung.
Todesfahrer wird am Donnerstag dem Richter vorgestellt
Über politische und extremistische Taten sei nichts bekannt. „Auch im Zusammenhang mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen ist der Tatverdächtige bisher nicht aufgefallen.“ Im Auto sei kein Bekennerschreiben gefunden worden, sagte Spranger. „Im Auto wurden Plakate gefunden. Ob und inwieweit diese im Zusammenhang mit der Tat stehen, ist auch Gegenstand der Ermittlungen.“ Spranger betonte: „Deshalb bewerte ich nach derzeitigem Stand das gestrige Geschehen als einen Amoklauf einer psychisch beeinträchtigten Person.“
Der Mann befinde sich im Polizeigewahrsam und werde am Donnerstag einem Richter vorgeführt, sagte Spranger. Der Richter kann einen Haftbefehl ausstellen, so dass der Mann in Untersuchungshaft kommt. „Die Ermittlungen werden von der Mordkommission geführt und laufen auf Hochtouren. Die Maßnahmen vor Ort sind abgeschlossen.“
Polizei untersucht Computer des Beschuldigten
Die Polizei habe am Mittwochabend die Wohnung des Mannes durchsucht. „Zurzeit wird sowohl das Mobiltelefon als auch der Computer sehr intensiv untersucht.“
Spranger sagte weiter: „Ich habe heute Nacht kaum ein Auge zugemacht.“ Ihre Gedanken seien bei der getöteten Lehrerin und den Angehörigen, ebenso bei den vielen Verletzten und Schwerverletzten. Ein Teil der Jugendlichen sowie der Eltern, die am Mittwoch nach Berlin kamen, sei inzwischen wieder auf dem Rückweg nach Hessen.
Scholz und Giffey sprechen von Amoktat
Der tödliche Vorfall mit einem Auto nahe der Berliner Gedächtniskirche sorgt auch einen Tag nach der Tat für Entsetzen – und wird von Bundeskanzler Olaf Scholz nun als „Amoktat“ bezeichnet. „Die grausame Amoktat an der Tauentzienstraße macht mich tief betroffen“, schrieb der SPD-Politiker am Mittwochabend bei Twitter. Der Fahrer des Autos, das eine Schülergruppe erfasst und die Lehrerin in den Tod gerissen hatte, war nach jüngstem Kenntnisstand wohl psychisch beeinträchtigt.
„Die Reise einer hessischen Schulklasse nach Berlin endet im Alptraum. Wir denken an die Angehörigen der Toten und an die Verletzten, darunter viele Kinder. Ihnen allen wünsche ich eine schnelle Genesung“, so Scholz weiter.
Giffey gibt Einblick in Verhör: „Wirre Äußerungen, die er tätigt“
Nach Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (beide SPD) am Donnerstagmorgen entsprechend: „Das hat sich gestern Abend verdichtet“, sagte Giffey im RBB-Inforadio.
Durch die Ermittlungen der Polizei sei klar geworden, „dass es sich um die Amoktat eines psychisch schwer beeinträchtigten Menschen handelt“. Mit Hilfe eines Dolmetschers werde versucht, mehr „aus den teilweise wirren Äußerungen, die er tätigt, herauszufinden“.
Lehrerin getötet, 14 Verletzte
Neben der getöteten Lehrerin wurden nach Angaben der Polizei von Mittwochabend 14 Menschen verletzt, mehrere von ihnen lebensbedrohlich. Die Trauer und die Anteilnahme aus ganz Deutschland waren enorm.Ein Verdächtiger - ein 29 Jahre alter, in Berlin lebender Deutsch-Armenier - wurde gefasst und in ein Krankenhaus gebracht.
Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres zitierte Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Abend bei Twitter mit den Worten: „Bin wieder in meiner Lagezentrale: Nach neuesten Informationen stellt sich das heutige Geschehen an der #Tauentzienstrasse als eine Amoktat eines psychisch beeinträchtigten Menschen dar.“ Mehr Details dazu nannte sie nicht.
Polizei hat Indizien auf psychische Erkrankung des Fahrers
Ein Sprecher der Berliner Polizei sagte der Deutschen Presse-Agentur am Abend: „Es gibt Indizien, die die Theorie eines psychischen Ausnahmezustands stützen.“ Es handle sich aber um eine von mehreren möglichen Versionen. „Nach Durchsuchungen laufen Ermittlungen und Spurenauswertung intensiv weiter“, schrieb die Polizei bei Twitter.
Polizeipräsidentin Barbara Slowik hatte zuvor im RBB ebenfalls die Offenheit der Ermittlungen betont: Man schließe im Moment „gar nichts“ aus, sagte sie. Die Ermittlungen würden von einer Mordkommission geführt. Unter anderem wurde die Wohnung des Fahrers in Charlottenburg durchsucht.Im Wagen wurden neben Schriftstücken auch Plakate mit Aufschriften gefunden. „Ein richtiges Bekennerschreiben gibt es nicht“, sagte Innensenatorin Spranger.
Auto gehörte älterer Schwester
Zuvor hatte es aus Polizeikreisen geheißen, es sei ein Bekennerschreiben gefunden worden. Spranger sprach von „Plakaten“, auf denen Äußerungen zur Türkei stünden. Der Fahrer war nach dpa-Informationen mit einem Auto unterwegs, das seiner älteren Schwester gehört. Er soll der Polizei wegen mehrerer Delikte bekannt gewesen sein, jedoch nicht in Zusammenhang mit Extremismus. Die Schwester des Verdächtigen sagte einem „Bild“-Reporter: „Er hat schwerwiegende Probleme.“ Nachbarn äußerten sich der Zeitung zufolge erstaunt, „dass er zu so einer Tag fähig ist.“
Man habe derzeit keine Erkenntnisse gegen den Fahrer seitens des Verfassungsschutzes, sagte Spranger in der RBB-„Abendschau“. Sie sprach den Hinterbliebenen und Angehörigen ihr Mitgefühl aus und kündigte für Donnerstag eine Trauerbeflaggung in Berlin an.
Am Abend gedachten zahlreiche Menschen in der Gedächtniskirche der getöteten Frau und der Verletzten. Vor Ort waren unter anderem Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (beide SPD) sowie Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizei. Auch Bürgerinnen und Bürger drückten bei der Andacht ihre Anteilnahme aus.
Todesfahrt endet im Schaufenster
Soweit bekannt, spielte sich der Vorfall im Herzen Berlins so ab: Der Mann fuhr den Renault-Kleinwagen am Vormittag an der Straßenecke Ku'damm und Rankestraße auf den Bürgersteig des Ku'damms und in die Menschengruppe. Dann fuhr er auf die Kreuzung und knapp 200 Meter weiter auf der Tauentzienstraße Richtung Osten. Kurz vor der Ecke Marburger Straße lenkte er den Wagen erneut von der Straße auf den Bürgersteig, touchierte ein anderes Auto, überquerte die Marburger Straße und landete im Schaufenster einer Parfümerie.
Die Bundesregierung, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigten sich bestürzt über das Geschehene. „Meine Gedanken sind bei den schwer und sehr schwer Verletzten, bei dem Todesopfer“, erklärte Steinmeier. „Und sie sind bei denen, die Schreckliches erleben mussten. Mein tiefes Mitgefühl gilt ihnen, allen Angehörigen und Hinterbliebenen.“ Bürgermeisterin Giffey sagte den Betroffenen Unterstützung zu.
Seelsorger im Einsatz
Die Polizei richtete eine Telefonhotline für Angehörige ein, vor Ort waren Seelsorgerinnen und Seelsorger im Einsatz. Die Gegend, in der sich der tödliche Vorfall am Mittwoch ereignete, ist wegen der vielen Geschäfte, Cafés und Sehenswürdigkeiten oft sehr belebt. Sie ist ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland.
Der Unfallort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei und an den Spätfolgen starben 13 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Der Fall vom Mittwoch weckte in Berlin auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen. (dpa)