Ein Video aus Göttingen zeigt einen Autofahrer, der versucht, Demonstrierende der Letzten Generation von der Straße zu schleifen – und Gewalt androht. Dürfen Autofahrer eigenhändig die Straße freiräumen?
„Setz dich wieder hin und ich breche dir die Beine“Autofahrer zerrt Klimaaktivisten von Straße
Den ersten Aktivisten greift der aufgebrachte Autofahrer an der Warnweste und zerrt ihn rückwärts zum Bürgersteig. „Halt die Fresse“, ruft er dem Mann zu, als dieser aufstehen will. Dann greift er sich den nächsten Demonstranten am Kragen und schleift ihn an den Straßenrand. Als der erste Blockierer seinen Platz auf der Kreuzung wieder einnehmen will, droht der Autofahrer: „Setz dich wieder hin und ich breche dir die Beine.“ Zu diesem Zeitpunkt ist die Polizei noch nicht vor Ort.
Am Montagmittag, 5. Dezember, um 12.20 Uhr besetzten Klimaaktivisten der Letzten Generation mit einer Straßenblockade die Kreuzung am Weender Tor in Göttingen. Ein Video der Protestaktion zeigt den aufgebrachten Autofahrer, der versucht, die Straße eigenhändig zu räumen. War das Verhalten des Mannes zulässig? Oder macht er sich damit strafbar?
Sitzblockade in Göttingen: Das sagt die Polizei
Die Polizeiinspektion Göttingen hatte über den Vorfall, den das Video dokumentiert, bisher keine Kenntnis: „Der Inhalt der Videos war uns bislang nicht bekannt und wurde von den vermeintlich Geschädigten auch noch nicht angezeigt“, sagt Polizeisprecher André Sikulski. Eine Bewertung des Videos stehe noch aus.
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Sikulski stellt klar, dass es sich bei der Sitzblockade – so ungelegen sie den betroffenen Autofahrern auch komme – um eine Versammlung handle, die unter das Versammlungsrecht falle. Für die Auflösung einer solchen Versammlung sei die Polizei zuständig. Da dürfe niemand selbst Hand anlegen. „Dafür sind die Vollzugsorgane da“, sagt Sikulski. In so einer Situation Zwang anzuwenden sei alleine Aufgabe der Polizei.
Denkbar wäre, dass die Handlungen des Autofahrers nach Paragraf 223 des Strafgesetzbuches (StGB) als versuchte Körperverletzung eingestuft werden. Wie es in diesem Fall weitergeht, hängt allerdings davon ab, ob der vermeintlich Geschädigte die Handlung zur Anzeige bringt. Tut er das nicht, könnte die Staatsanwaltschaft dennoch tätig werden – wenn sie den Fall als ein „relatives Antragsdelikt“ behandelt.
Nach Paragraf 230 StGB könnte die Staatsanwaltschaft auch ohne Anzeige durch den Geschädigten gegen den Autofahrer vorgehen, wenn nämlich „die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält“.
Klimaaktivisten der Letzten Generation wollen keine Anzeige
Zu einer Anzeige durch die Aktivistinnen und Aktivisten wird es nicht kommen. Bernd Lukas (53) ist einer der beiden Männer, die vom Autofahrer von der Straße gezerrt wurden. „Wir wollen Klimaschutz vorantreiben – und da sind Anzeigen kontraproduktiv“, sagt er. „Wir streben üblicherweise keine Anzeigen an“, sagt auch Rosa Reinisch, die am Montag ebenfalls die Straße blockierte. „Uns ist bewusst, dass unsere Blockaden willkürlich Menschen treffen – und es tut uns leid, dass wir diese Menschen auf ihrem Weg unterbrechen.“
Mit ihrem Protest will die Letzte Generation nach eigenen Angaben Druck auf die Politik ausüben. Die Gruppe fordert die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets und Tempo 100 auf Autobahnen.
Straßenbesetzungen gelten in Göttingen als Ordnungswidrigkeit
Die Polizei erreichte die Blockade sieben Minuten nach deren Beginn. Vor Ort forderte der Polizeieinsatzleiter die Demonstranten auf, die Straße zu verlassen und auf dem Gehweg weiter zu demonstrieren. Als die Aktivistinnen und Aktivisten dieser Aufforderung nicht nachkamen, trugen Polizisten die Demonstranten von der Straße.
Straßenblockaden wie in Göttingen werden in Niedersachsen nicht nach dem Strafgesetzbuch geahndet, sondern als Ordnungswidrigkeit eingestuft. Die Identität der Aktivisten wurde am Montag, 5. Dezember, von der Polizei festgestellt und der Fall an das Ordnungsamt Göttingen übergeben. Auf die Aktivistinnen und Aktivisten komme nun ein Bußgeld zu, sagt Polizeisprecher Sikulski.