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Überschwemmungen in Brasilien„Es gibt gerade keinen Tag, der sich normal anfühlt“

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Schlammspuren zeigen die Höhe der Überflutungen in der zentralen Region der Hauptstadt, deren Schäden noch nicht beziffert werden können.

Schlammspuren zeigen die Höhe der Überflutungen in Porto Alegre, deren Schäden noch nicht beziffert werden können

Seit Wochen sind große Teile des Bundesstaats Rio Grande do Sul in Brasilien überschwemmt. Hunderttausende haben ihr Zuhause verloren, mehr als 160 Menschen sind gestorben, weitere werden vermisst. Und eine große Frage steht noch aus: Was bleibt, wenn das Wasser weg ist?

Der Süden Brasiliens erlebt seit einigen Wochen die schlimmste Hochwasserkatastrophe seit mehr als 80 Jahren. Ende April kamen die ersten Starkregengüsse, bis heute hat es selten aufgehört zu regen. Der Bundesstaat Rio Grande do Sul ist nahezu vollständig überschwemmt. Hunderttausende mussten ihr Zuhause verlassen, mehr als 160 Menschen sind tot, weitere werden vermisst. Der internationale Flughafen von Porto Alegre, einer der größten in Südbrasilien, steht unter Wasser.

Bruno Lunkes lebt in der Stadt, die es am heftigsten traf, in Porto Alegre. Er hatte Glück im Unglück: Sein Stadtteil bliebt weitgehend verschont von den Fluten. Aber auch Lunkes und seine Frau mussten die Stadt für ein paar Tage verlassen, als die Trinkwasserversorgung unterbrochen war.

Größte Überschwemmung seit 1941 in Brasilien

„Es gibt gerade keinen Tag, der sich normal anfühlt“, sagt der 29-Jährige im Videocall. Als es Ende April anfing zu regnen, rechnete zunächst niemand damit, wie dramatisch die Situation werden würde, erzählt er. „Keiner hat damit gerechnet, dass das Wasser so schnell und so hoch steigt.“ Es gebe in Brasilien häufiger Überschwemmungen, aber die letzte ähnlich große in diesem Gebiet sei 1941 passiert. „Da waren viele noch gar nicht geboren, inklusive mir.“

Als das Wasser kam, habe einfach Zeit gefehlt, um die Häuser zu räumen. „Bei manchen meiner Freunde und Kollegen stehen ganze Stockwerke unter Wasser. Sie haben alles verloren. Nicht nur Möbel und solche Dinge, auch Erinnerungen, Fotos und so weiter. Alles weg“, sagt Lunkes. „Es gibt einfach Menschen, die haben von jetzt auf gleich alles verloren. Das psychisch zu verarbeiten wird eine große Herausforderung werden.“

Mit dem Wasser kommen die Krankheiten

Lunkes ist Investmentberater bei einer Bank. Er sagt, er spreche jeden Tag mit Menschen, die bei dem Hochwasser ihr Haus verloren haben. Besonders arme Menschen habe die Überschwemmung stark getroffen. „Wer genug Geld hat, hat oft ein Haus am Strand und kann dorthin flüchten“, sagt er. „Menschen mit wenig Geld schlafen jetzt in Notunterkünften. Die hatten vorher schon Schulden und haben jetzt nicht einmal mehr ein Zuhause.“

Besonders fatal: Als vor ein paar Tagen der Pegel des Guaiba-Flusses wieder auf unter vier Meter sank (er war zwischenzeitlich auf über fünf Meter gestiegen), kehrten viele Menschen zurück in ihre Häuser und Wohnungen, um aufzuräumen. „Dann hat es innerhalb eines Tages so viel geregnet wie sonst im ganzen Mai“, sagt Lunkes. „Nun ist der Pegel wieder bei weit über vier Meter – und die Häuser sind wieder überschwemmt.“ Er mache sich auch Sorgen, wie es generell weitergehe, wenn das Wasser weg ist. Denn viele Firmen sind ebenfalls von den Folgen des Hochwassers betroffen. „Nicht alle Unternehmen werden das überleben. Dann verlieren die Menschen hier ihre Jobs, ihr Einkommen“, sagt Lunkes.

Das Hochwasser bringt zudem noch ganz andere Probleme mit sich: Krankheiten wie Leptospirose breiten sich aus. „Einige Menschen sind sehr krank geworden, als sie Menschen aus ihren Häusern gerettet haben“, erzählt Lunkes. „Bei dem schmutzigen Guaiba-Wasser reicht schon eine kleine Wunder, um sich zu infizieren.“ Leptospirose ist eine Infektionskrankheit. Im besten Fall ist sie nicht schlimmer als eine Grippe, im schlechtesten kann die Erkrankung laut Robert Koch-Institut innerhalb weniger Tage zum Tod führen. In Porto Alegre gibt es bislang mehr als 1140 Leptospirose-Verdachtsfälle, berichtet die BBC. Zwei Männer starben an Leptospirose, weitere Todesfälle werden untersucht.

Aber es gibt auch positive Entwicklungen in der Krise: „Jeder kennt jemanden, der oder die etwas verloren hat und jeder macht irgendwas, um zu helfen. Ich habe noch nie eine so große Solidarität und Hilfsbereitschaft erlebt wie in den vergangenen Wochen. Das ist toll“, sagt Lunkes. „Von überall kommt Hilfe, aus ganz Brasilien und anderen Ländern. Ich habe noch nie so viele Helikopter über der Stadt gesehen.“

Umweltschutz ist nicht Priorität

Aber wie kam es überhaupt zu der Katastrophe? „Dieser wochenlange Regen ist natürlich eine Folge des Klimawandels. Aber dass die Menschen hier so katastrophal davon getroffen wurden, liegt zu großen Teilen an der Laissez-faire-Haltung der Politik, wenn es um Umweltschutz geht“, sagt Regine Schönenberg. Die Forscherin aus Berlin leitet seit Januar das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro. „Das Hochwasserschutzsystem wurde nicht gewartet, die Katastrophentrainings in den Schulen wurden vernachlässigt, die Umweltnormen aufgeweicht oder gestrichen und Renaturierungsmaßnahmen wurden nicht umgesetzt.“

Rio Grande do Sul sei zudem der drittgrößte Sojaproduzent für Viehfutter in ganz Brasilien. Um diese Mengen herstellen zu können, sind seit Mitte der Achtzigerjahre 3,5 Millionen Hektar Wald und Pampa vernichtet worden – das sind 22 Prozent der gesamten Region. „Wälder und Pampa fungieren wie natürliche Deiche. Eine Renaturierung hätte die Folgen der Katastrophe also enorm abmildern können“, sagt Schönenberg.

„Einige Politiker nehmen die Wissenschaften nicht ernst“

Vor Ort sei es schwer, aus der Katastrophe nun rationale Lehren zu ziehen. „Einige Politiker nehmen die Wissenschaften nicht ernst und leugnen den Klimawandel. Und es gibt hier nicht so etwas wie die ‚Tagesschau‘, die alle gucken“, sagt Schönenberg. „Die brasilianische Gesellschaft ist eine der digitalisiertesten Gesellschaften der Welt. Jede Community hat ihre eigene Bubble – und ihre eigene Wahrheit. Deswegen ist es auch so schwer, gegen Fake News anzukommen.“ Nur eine sehr kleine intellektuelle Schicht suche nach objektiven Informationen.

Wem die Brasilianerinnen und Brasilianer die Schuld an der Katastrophe geben, werden die Kommunalwahlen im Oktober zeigen. Und da zählt, nach Einschätzung von Schönenberg, besonders, wie Frauen die Folgen und den Umgang mit der Überschwemmung einschätzen. „Frauen sind hier sehr wahlentscheidend, weil sie disziplinierter sind und eher wählen gehen“, sagt Schönenberg. „Dass Bolsonaro immer so herumproletet hat, ist sehr schlecht bei den Frauen angekommen und hat ihn wahrscheinlich die Wiederwahl gekostet.“