Eine Pandemie zum Anfang des Jahrzehnts, eine finanzielle Krise, der Aufstieg der Extremisten und neue technische Höhen: Oft werden die 1920er-Jahre mit den 2020ern verglichen.
Pandemie, Krise, Extremismus1920er und 2020er im Vergleich – Wiederholt sich die Geschichte?

Lebensmittelpreise damals und heute, in den 1920er- und 2020er-Jahren. Patricia
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Die 1920er-Jahre stehen für technischen Aufbruch, wirtschaftliche Turbulenzen, und eine vom Ersten Weltkrieg gezeichnete Gesellschaft – ein Jahrzehnt, das zwischen Glanz und Krise schwankte. Hundert Jahre später drängen sich Parallelen auf: Eine Inflation, politische Spannungen und Existenzängste über eine unsichere Zukunft prägen auch die 2020er. Sind die „Goldenen Zwanziger“ tatsächlich zurück, und droht ein ähnlicher Absturz wie damals? Zur Halbzeit des Jahrzehnts ziehen wir Bilanz und fragen: Wiederholt sich Geschichte wirklich?
Alle 100 Jahre eine Pandemie
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs forderte eine weitere Katastrophe Millionen Menschenleben: Die Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1920 wütete, tötete schätzungsweise 20 bis 50 Millionen Menschen weltweit. Rund 100 Jahre später bricht mit dem Corona-Virus eine weitere Pandemie aus, mit etwa sieben Millionen Todesopfern.
Trotz dieser Parallele war der gesellschaftliche Umgang mit den Krankheiten ein anderer, erklärt der Historiker Wolfram Pyta, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart: Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Menschen durch dessen Folgen bereits so belastet, dass die Krankheit kaum im Fokus stand. „Die Spanische Grippe hat nicht dazu geführt, dass das öffentliche Leben lahmgelegt wurde“, so Pyta.
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Anders wirkte sich das Corona-Virus aus: Lockdowns, Maskenpflicht und Impfdebatten waren aus dem Alltag der frühen 2020er nicht wegzudenken. Letztere haben tatsächlich bereits eine lange Geschichte. Schon in den 1870er-Jahren gab es Auseinandersetzungen über die Impfpflicht gegen Pocken. Die Argumente waren ähnlich, stellten den Schutz anderer gegen einen Eingriff in die persönliche Freiheit. In den 1920ern spielten Impfungen und ihre Gegner jedoch kaum eine Rolle.
Inflationen erschweren den Alltag
Mit den ersten steigenden Preisen schrillen bei vielen die Alarmglocken: Erinnerungen an die Hyperinflation von 1923 und die anschließende Weltwirtschaftskrise werden wach. Steuern wir 100 Jahre später auf einen weiteren Börsenkrach zu?
Die Inflation der 1920er und der starke Wertverlust der damaligen Währung waren „welthistorisch einmalig“, gibt Pyta Entwarnung: „Letztendlich hat man damals eine Streichholzschachtel mit einer Milliarde bezahlt“, beschreibt er die Ausmaße bildhaft. Heute sei die Inflation zwar spürbar, aber nicht außergewöhnlich nach europäischen Maßstäben. „Was bleibt, ist, dass die Deutschen sensibel sind, was Geldentwertung anbelangt“, erklärt Pyta die Beunruhigung. Doch der deutsche Sozialstaat macht es unwahrscheinlich, dass das Land heute in eine solch große Krise wie in den 1920ern schlittert.
Politik radikalisiert sich
Extremismus nimmt weltweit zu. Radikale Forderungen rechter und linker Akteure und Massenproteste prägen das politische Klima. „Wir beklagen heute mit Recht eine sprachliche Verrohung“ in der Politik, beobachtet Pyta. Das erinnert an die 1920er-Jahre, in denen sich Vorgehensweisen gegen politische Gegner jedoch noch drastischer äußerten – mit „physischer Gewalt als Mittel der Politik, das mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zumindest von radikalen Kräften praktiziert wurde“.
Damals wie heute scheinen gemäßigte Positionen zugunsten polarisierender Kräfte zu verschwinden, jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied in den 1920ern, der zur Extremisierung beitrug: „Man kann die Weimarer Republik nicht verstehen, ohne den Schatten, den der Weltkrieg wirft“, erklärt Pyta, denn der verlorene Krieg habe die deutsche politische Kultur militarisiert.

Polizeieinsatz nach dem Attentat auf Donald Trump.
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Dennoch lassen etwa Attentate wie das auf US-Präsident Donald Trump im Juli 2024 hinterfragen, ob die politische Gewalt/Radikalisierung nicht noch weiter zunimmt.
Kriegsängste bestimmen das Denken
In den 1920ern lasteten die Folgen des Ersten Weltkriegs schwer auf den Menschen. In den 2020ern ist es die Furcht vor einem neuen globalen Konflikt, angeheizt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Spannungen im Gazastreifen. „Der Krieg ist zurück“, so Pyta. Gemeint ist der symmetrische Krieg, bei dem ein Staat mit seiner Armee einen anderen überfällt.
Ein wichtiger Unterschied hierbei: Damals war Deutschland, wie andere Staaten, ein souveräner Nationalstaat. Heute ist das Land in die Europäische Union (EU) und das Nordatlantische Verteidigungsbündnis (Nato) eingebunden. Das macht Staaten berechenbarer, da sie sich im Falle der EU als Teil einer politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft verstehen – und die Beistandsklausel der Nato als Abschreckung vor Angriffen auf fremde Territorien dient.
In den 1920ern gab es laut Pyta keine verlässlichen internationalen Bündnisse zur Abschreckung. Dass die Ukraine dennoch in diesem Jahrzehnt von Russland angegriffen wurde, liegt genau daran: „Die Ukraine ist nicht Mitglied der Nato“, erklärt Pyta. So ist ein Dritter Weltkrieg zwar unwahrscheinlicher als ein Kriegsausbruch vor 100 Jahren – doch kommen zu den Existenzängsten der Menschen in den 2020ern neben der Kriegsangst auch ganz neue Faktoren wie die Klimakrise hinzu.
Technischer Boom bringt Fortschritt
Neben turbulenten Krisen gab es aber auch Lichtblicke, vor allem die Mitte der 1920er war eine wirtschaftliche und technische Erfolgsgeschichte. Nicht umsonst spricht man von den „Golden Twenties“ und den „Roaring Twenties“. Der Rundfunk etablierte sich, das Auto wurde massentauglich. Heute sind es künstliche Intelligenz und Elektro-Autos, die unseren Alltag von Grund auf verändern.
Allerdings gibt es aus deutscher Sicht einen Unterschied zwischen den technischen Revolutionen der Jahrzehnte: In den 1920er-Jahren war Deutschland noch ein Weltführer in technischer Innovation und Wissenschaft. „Das kann man heute nicht mehr behaupten“, urteilt Pyta. Ähnlich verhält es sich mit der Kultur: Wo Deutschland vor 100 Jahren Meilensteine in Film und Literatur setzte, verblasst es heute im internationalen Vergleich.
Demokratie in Gefahr?
Ob durch den zweiten Amtsantritt Donald Trumps in den USA und den folgenden radikalen Verordnungen oder durch die wachsende Stärke rechtspopulistischer Parteien in Europa – immer wieder ist die Sorge zu vernehmen, dass sich die Demokratie von innen heraus zerstören könnte. Teils werden sogar Parallelen zu Adolf Hitlers demokratischem Aufstieg zur Macht gezogen – bewegen wir uns 100 Jahre später wieder in eine ähnliche Richtung?
Tatsächlich trage jede Demokratie das Risiko in sich, ihre eigene Grundlage zu gefährden, denn sie muss sich durch Wahlen stets selbst bestätigen, beschreibt Pyta. Aktuell gewinnen politische Kräfte an Einfluss, die zwar nicht wie die Nationalsozialisten und Kommunisten damals offen eine Diktatur errichten wollen, aber doch autoritäre politische Systeme vorziehen, erklärt Pyta die Gemeinsamkeiten.

Auch im Karneval wurde an Parallelen erinnert.
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Zumindest in Deutschland wurden in dieser Hinsicht jedoch bereits Lehren aus der Geschichte gezogen: 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten direkt zum Reichskanzler ernannt. Heute wird der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt, während der Bundespräsident nur ein Vorschlagsrecht hat.
Geschichte wiederholt sich - Umstände ändern sich
Pandemien, Inflation, politische Krisen – sind die 1920er nun also zurück? „Nein“, sagt Pyta deutlich. Internationale Bündnisse, wirtschaftliche Vernetzungen und veränderte demokratische Strukturen verhinderten eine exakte Wiederholung der 1920er.
Aber warum fühlt es sich dennoch so an? Erklärt werden kann das mit den Standards, an denen gemessen wird. Eine Krise, ob wirtschaftlich, politisch oder anderer Natur, ist „eine Einschätzung einer Situation, in der es nicht weitergehen kann wie bisher, und Handlungsbedarf geboten ist“, sagt Pyta. „Vieles spricht dafür, dass man die heutige Lage als krisenhaft einschätzt.“
Dazu trägt auch bei, dass die grundlegende Erwartungshaltung heute höher ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist „aus Trümmern entstanden“, und hat „Wohlstand für alle“ erarbeitet, erklärt Pyta: Das weckt Erwartungen, „dass es weiter aufwärts geht, oder zumindest nicht schlechter wird“. Allzu schnell werden solche Erwartungen enttäuscht, und Beunruhigung breitet sich aus.